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Das sonderbare Gefühl, das beim Anblick des Bildes von Mogrod Besitz ergriffen hatte, verstärkte sich weiter, während er arbeitete. Auf dem Negativ war nämlich nicht der allerkleinste Makel zu entdecken. Es zeigte die Blutschrift an der Wand und sonst nichts. Keinen Kratzer, keine Verunreinigung, nicht einmal den Schatten eines Schattens. Ein Fehler im Fotopapier? Eigentlich war das nicht möglich - nicht so -, aber Mogrod zog diese Alternative zumindest in Betracht, und wenn es so war, dann war es höchst bedauerlich, denn das bedeutete, daß er den Effekt nicht würde wiederholen können. Ade Geisterfoto und ade Extrahonorar.

Er vergrößerte die entsprechende Stelle so stark, wie es das Format seines Fotopapiers zuließ, nahm das Blatt aus dem Projektor und ließ es in die Schale mit Entwickler gleiten. Er mußte nur ein paar Sekunden warten, bis sich die ersten grauen Konturen auf der strahlendweißen Oberfläche zu zeigen begannen.

Und der Schatten war da. Die Wand, ein Teil des Türrahmens, die verlaufende Schrift - und der unheimliche Umriß, der eigentlich gar nicht da sein durfte und auf dem Negativ auch nicht zu sehen war. Mogrod war sicher. Er hatte ganz genau hingesehen. Was sich da vor seinen Augen in wolkigem Grau bildete und allmählich zu scheinbarer Substanz gerann, war auf dem Negativ eindeutig nicht abgebildet. Konnte es sein, daß...

... daß er tatsächlich eine Art Gespenst fotografiert hatte?

Das war natürlich hahnebüchener Unsinn - Mogrod glaubte weder an Geister noch an irgendwelchen anderen übernatürlichen Kram -, und trotzdem konnte er spüren, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken bei diesem Gedanken aufstellten.

Vielleicht zum ersten Mal überhaupt fiel ihm auf, wie gespenstisch der Anblick eines Bildes war, das scheinbar aus dem Nichts heraus auf dem Papier erschien, sobald man es in die Entwicklerflüssigkeit gegeben hatte. Das rote Licht in der Kammer verstärkte den unheimlichen Effekt noch und gab ihm etwas Düsteres, Drohendes.

Mogrod war immer noch nicht bereit, zuzugeben, was er wirklich empfand, nämlich Angst. Aber sein Herz begann schneller zu schlagen, während das Bild weiter an Deutlichkeit und Schärfe zunahm.

Der Schatten war jetzt ganz deutlich zu sehen - und es war eindeutig nicht sein Schatten.

Es war der Schatten einer großen, sehr schlanken Gestalt, die eine Art gürtelloses Kleid oder Toga zu tragen schien und schulterlanges glattes Haar hatte. Ihre Arme, die in sehr weit geschnittenen Trompetenärmeln steckten, waren halb ausgebreitet, und hinter und über ihnen war noch etwas, als trüge sie etwas Großes auf dem Rücken, das er nicht genau erkennen konnte.

Unmöglich, dachte Mogrod. Was er sah, war unmöglich. Der Schatten war jetzt viel deutlicher als vorhin, auf dem ersten Abzug, und er war auch fast sicher, daß er da nicht mit halb erhobenen Armen dagestanden hatte. Es konnte nicht sein. Es konnte, konnte, konnte nicht sein!

Der Schatten verdichtete sich weiter. Er war jetzt viel mehr als ein Schemen, und wäre Mogrod nicht bereits halb hysterisch gewesen, hätte er zugegeben, daß er keinen Schatten mehr betrachtete, sondern längst eine Gestalt, die er fotografiert hatte. Aus hellem wurde dunkleres Grau, dann Schwarz, und auch seine Umrisse wurden schärfer. Das Bild war bereits wieder überentwickelt. Die Wand mit Löbachs Blutschrift begann wieder zu verschwimmen und färbte sich immer dunkler, aber die Gestalt war noch immer sichtbar. Auf eine unheimliche Art und Weise schien sie plötzlich sogar Tiefe zu besitzen, als betrachte er nicht länger ein Foto, sondern eine Holographie.

Oder etwas, das lebte.

Dann begann sich die Flüssigkeit zu bewegen. Winzige Wellenkreise erschienen über dem Schatten, und plötzlich bewegte auch er sich und streckte die Hände nach Mogrod aus!

Der Fotograf stolperte mit einem keuchenden Laut zurück, prallte gegen den Türrahmen und wäre um ein Haar gestürzt. Seine Hände fuhren mit scharrenden Lauten über die Tür und suchten die Klinke, aber sie hatten irgendwie nicht mehr die Kraft, sie zu drücken. Halb verrückt vor Panik und zugleich gelähmt vor Furcht stand er da und starrte die Fotoschale an. Er konnte das Bild jetzt nicht mehr sehen, aber hörte etwas, ein leises Plätschern, als bewege sich etwas in der Flüssigkeit. Etwas, das in der Schale gefangen war und herauswollte!

Unmöglich! dachte Mogrod. Das ist voll-kom-men unmöglich! Das bilde ich mir nur ein! Ich bin hysterisch. Überarbeitet. Ich habe einen Drink zuviel gehabt. Schlechtes Gras geraucht! Das kann einfach nicht sein! SO ETWAS GIBT ES NICHT! Er fuhr alle Geschütze der Logik und des klaren Menschenverstandes gegen das Phänomen auf, und für einige Momente schien es tatsächlich, als hätte dieser Präventivschlag Wirkung gezeigt.

Genau so lange, bis die Hand über dem Rand der Fotoschale erschien. Mogrod schrie, aber es war ein lautloser Schrei. Aus seiner Kehle kam nur ein Laut, und der Schrei gellte nur in seinem Kopf, während er aus hervorquellenden Augen die blutigen Fingerstümpfe anstarrte, die sich am Rand der Kunststoffschale festgeklammert hatten. Sie hatten keine Haut. Das Fleisch schien zu kochen, und hier und da schimmerte weißer, halb zersetzter Knochen durch die entsetzliche Masse. Die Hand sah aus, als wäre sie in Salpetersäure getaucht worden.

Aber sie bewegte sich. Die Finger klammerten sich nur noch einen Moment am Rand der Schale fest, dann krochen sie wie eine fünfbeinige fleischige Spinne weiter, so daß das Gelenk und ein Teil eines schlanken Unterarmes erschienen, dann eine zweite Hand, ebenso grausam verstümmelt wie die erste, die sich auf die gleiche unheimliche Weise in die Höhe zu arbeiten begann.

Und schließlich der Kopf.

Mogrod schrie diesmal wirklich gellend auf, riß schützend beide Arme vor das Gesicht und taumelte rücklings vor der entsetzlichen Gestalt zurück, die sich mit langsamen, pumpenden Bewegungen aus der Fotoschale herausarbeitete, wie ein Kanalarbeiter, der sich aus einem zu engen Schacht herauszustemmen versucht. Es war die Gestalt aus dem Foto. Er hatte ihr Gesicht nicht erkannt, und das konnte er auch nicht, denn es war im Grunde kein Gesicht, sondern ein hautloser, brodelnder Schädel ohne Augen und Lippen, und auch jetzt war hinter ihr noch etwas Großes, Brodelndes, das noch immer nicht genau zu erkennen war.

Mogrod prallte gegen ein Regal. Irgend etwas fiel zu Boden und zerbrach klirrend, und eine scharfkantige Scherbe grub sich durch sein Hemd hindurch tief in seinen Rücken, ohne daß er den Schmerz auch nur bewußt registriert hätte. Sein Herz jagte, als wolle es aus seiner Brust herausspringen. Ein winziger Teil von ihm versuchte noch immer, seine einzige Waffe, die Logik, einzusetzen, um ihn davon zu überzeugen, daß er all dies nicht wirklich erlebte. Er hatte eine Halluzination, nichts weiter. Aber selbst wenn das stimmte, nutzte dieses Wissen nichts, denn die Beruhigung, die es bringen sollte, wurde von der Wucht der Bilder, die er sah, einfach davongefegt. Mogrod sank wimmernd in die Knie und schlug die Arme über dem Kopf zusammen.

Währenddessen hatte sich die Gestalt fast vollkommen aus der Schale herausgearbeitet, und während sie es tat, veränderte sie sich weiter. Das brodelnde Fleisch hörte auf zu kochen und glättete sich, hier und da erschienen kleine, rosige Hautfetzen, und das Gesicht hatte plötzlich Augen, die ihn aus viel zu großen, liderlosen Höhlen anstarrten. Lippen und weitere Haut gesellten sich hinzu, und auch der verkohlte Stoff des schwarzen Kleides, in das die Gestalt gehüllt war, entwickelte sich weiter. Dann, als allerletztes, wurde auch das wogende Etwas hinter ihr materiell, und Mogrod erkannte, daß es ein Paar gewaltiger schwarzer Flügel war.

Und endlich wußte er, wem er gegenüberstand.

Er war viel kleiner, als er erwartet hatte, fast von der Statur eines Kindes, und vollkommen schwarz. Aber es war keine wirkliche Farbe, sondern etwas, für das es keine Bezeichnung gab, und auch sein Gesicht, obwohl jetzt gänzlich unversehrt, war nicht wirklich zu erkennen, als wäre es menschlichen Augen nicht gestattet, das Antlitz des Todesengels zu sehen. Seine Flügel waren gigantisch, viel zu groß für die zerbrechliche Gestalt, und von der gleichen unwirklichen Farbe. Er begann sie langsam zu entfalten, wobei er gleichzeitig die Arme ausbreitete.