Er machte Anstalten, die Tür zu öffnen, aber der Taxifahrer streckte rasch den Arm aus und drückte den Türknopf herunter. »Macht zweihundertsiebzehn«, sagte er. »Ohne die Anzahlung von vorhin.«
»Ich weiß«, sagte Mark. »Aber ich habe sie nicht bei mir. Kommen Sie mit zum Haus, oder trauen Sie mir?«
Der Fahrer sah ihn schief an, dann zog er kommentarlos den Zündschlüssel aus dem Schloß und stieg aus. Mark nahm es ihm nicht übel. Er an seiner Stelle hätte wohl nicht anders gehandelt.
Mark stieg aus dem Taxi, ging zum Tor und tippte eine sechsstellige Ziffernfolge in die Zahlentastatur, die die Stelle eines Schlosses einnahm. Ein kaum hörbares Summen erklang, und das Tor sprang einen Fingerbreit auf. Der Taxifahrer zog erstaunt die linke Augenbraue hoch, aber er sagte nichts, sondern schloß sich Mark wortlos an, als er das Tor aufschob und den breiten Weg zum Haus hinaufzumarschieren begann.
Er ging sehr viel langsamer, als nötig gewesen wäre - wie er sich selbst einredete, um den Moment der Heimkehr entsprechend zu genießen, in Wahrheit aber wohl eher, um Zeit zu gewinnen. Mit ein wenig Glück war sein Vater nicht zu Hause, aber irgend etwas sagte ihm, daß das nicht der Fall sein würde. Und jetzt hatte es keinen Zweck mehr, es zu leugnen: Er hatte Angst, ihm gegenüberzutreten. Ob Prein nun Wort gehalten hatte oder nicht - ihm stand ein nicht sehr angenehmes Gespräch bevor. Und nach dem, was er in den letzten Stunden erlebt und über sich selbst erfahren hatte, war er ganz und gar nicht mehr sicher, daß er wirklich als Sieger daraus hervorgehen würde.
Sie waren noch fünf Meter von der Haustür entfernt, als sie geöffnet wurde. Das elektronische Schloß vorne am Tor stellte nur einen Bruchteil der Ausstattung dar, mit der sein Vater das Haus in den letzten Jahren in eine High-Tech-Festung verwandelt hatte, auch wenn man es ihm nicht ansah. Sie waren natürlich längst entdeckt und von einem halben Dutzend mißtrauischer Kameraaugen beobachtet worden. Den Vorteil der Überraschung würde er in dieser Konfrontation auf keinen Fall mehr auf seiner Seite haben.
Aber es war nicht sein Vater, der ihnen die Tür öffnete, sondern Marianne, dessen Haushälterin. Mark war im ersten Moment erleichtert, sie zu sehen statt seines Vaters oder einen der anderen Angestellten. Marianne war ins Haus gekommen, als er noch ein Baby war, und sie gehörte nicht nur schon praktisch zum Inventar, sondern war auch zu etwas wie einer mütterlichen Freundin geworden; vielleicht der einzige wirkliche Freund, den er in diesem Haus noch hatte, seit seine Mutter nicht mehr da war.
Ein einziger Blick in ihr Gesicht beantwortete Mark die Frage, die ihn auf dem Weg vom Tor bis zum Eingang am meisten bewegt hatte: ob Prein Wort gehalten hatte oder nicht. Er hatte offensichtlich.
Marianne war nicht überrascht, ihn zu sehen. Sie hätte es sein müssen, auch wenn sie ihn schon ein paar Augenblicke eher auf einem Monitor erkannt hätte, aber der einzige Ausdruck, den Mark auf ihrem Gesicht las, war eine vage Spur von Trauer und eine sehr deutliche Bedrückung, die ihn alarmierte. Sein Vater wußte offensichtlich nicht nur bereits, daß er kam, sondern hatte auch schon den einen oder anderen Kommentar abgegeben.
»Hallo, Marianne«, sagte er. Und als hätte der Klang seiner Stimme einen unsichtbaren Bann gebrochen, verschwand der bekümmerte Ausdruck von ihrem Gesicht und machte einer ehrlich empfundenen Freude Platz. Die Haushälterin machte einen halben Schritt auf ihn zu und setzte zu einer Bewegung an, ihn in die Arme zu schließen. Aus irgendeinem Grund tat sie es dann schließlich doch nicht, doch Mark nahm ihr die Entscheidung ab, indem er seinerseits die Arme ausbreitete und sie kurz, aber heftig an sich drückte.
»Wie schön, daß Sie da sind, Herr Sillmann«, sagte sie ein wenig atemlos, nachdem er sie wieder losgelassen und auf halbe Armeslänge von sich geschoben hatte.
Mark zog die linke Augenbraue hoch. »Herr Sillmann? Das letzte Mal waren wir noch per du.«
Seine Worte brachten Marianne sichtlich in Verlegenheit. »Das letzte Mal ist -«
»- ein knappes halbes Jahr her«, fiel ihr Mark ins Wort. »Sie wollen sich doch nicht etwa mit mir streiten, oder? Denken Sie immer daran: Sie stehen Ihrem zukünftigen Boß gegenüber, auch wenn es vielleicht noch ein paar Jahre dauert. Verderben Sie es sich lieber nicht mit ihm.«
Der nächste Scherz, der danebenging. Marianne lächelte zwar, aber es wirkte nicht überzeugend; nicht einmal überzeugend geschauspielert. Anscheinend war er heute mit einer Art Fluch beladen, alle und jeden irgendwie zu verärgern.
Um den peinlichen Moment irgendwie zu überspielen, räusperte er sich zweimal und deutete dann auf den Taxifahrer, der in einigen Schritten Entfernung stehengeblieben war und die Szene mit unbewegtem Gesichtsausdruck verfolgte. »Seien Sie so lieb und bezahlen Sie das Taxi, Marianne«, bat er. »Und geben Sie dem Mann ein gutes Trinkgeld. Es wird meinen Vater nicht ruinieren. Wo ist er überhaupt? Ist er im Haus?«
Marianne nickte. »Ja. Er ist im Arbeitszimmer. Aber er hat gerade Besuch. Vielleicht sollten Sie ihn jetzt nicht stören.«
»Du«, verbesserte Mark sie. »Und ich glaube nicht, daß ich ihn noch weiter verärgern kann, als ich es schon getan habe.«
»Aber Sie... du solltest jetzt wirklich -«
Mark hörte gar nicht mehr zu, sondern trat an Marianne vorbei ins Haus und ging mit schnellen Schritten zur Treppe. Sie versuchte nicht noch einmal, ihn zurückzuhalten, sondern wandte sich dem Fahrer zu, und Mark hätte sowieso nicht auf sie gehört. Sicher hatte sie recht: Sein Vater war kein besonders duldsamer Mann, und es war bestimmt nicht sehr klug, ihn zu stören, falls er geschäftlichen Besuch hatte. Mark war auch nicht daran gelegen, ihn noch mehr zu reizen - aber er hatte noch weniger Lust, jetzt hier zu warten, wie ein Schüler, der einen Termin bei seinem Direktor hatte, um sich einen Rüffel abzuholen. Außerdem war er nicht sicher, ob er später überhaupt noch den Mut haben würde, seinem Vater gegenüberzutreten. Gestern abend hatte Prein sicherlich übertrieben, aber jetzt war er genau in der Stimmung, die er ihm da unterstellt hatte - nervös, erregt und vollkommen übermüdet.
So schnell, wie er gerade noch konnte, ohne wirklich zu rennen, lief er die Treppe hinauf und steuerte die Bibliothek an, die seinem Vater zugleich als Arbeitszimmer diente. Die Tür war nur angelehnt, und er konnte die Stimmen seines Vaters und mindestens zweier weiterer Männer hören. Er konnte die Worte nicht verstehen, aber der Klang der Unterhaltung schien ihm nicht geschäftlich, ja nicht einmal wirklich höflich. Vielleicht war dort drinnen kein wirklicher Streit im Gange, aber zumindest doch die Vorstufe dazu.
Als er die Hand nach der Türklinke ausstreckte, klingelte das Telefon. Er konnte hören, wie sein Vater abhob und sich meldete, dann sagte er: »Für Sie.«
Mark betrat die Bibliothek im gleichen Moment, in dem der Besucher den Telefonhörer entgegennahm und sich meldete, und der Anblick, der sich ihm bot, war so unerwartet, daß er mitten im Schritt stehenblieb und überrascht die Augen aufriß.
Sein Vater saß hinter dem wuchtigen Schreibtisch, der vor dem Fenster aufgebaut war, und trug noch immer einen seidenen Hausmantel, Pantoffeln und Pyjamahosen, obwohl es bereits nach zehn war. Seine Frisur war wirr, als hätte er statt eines Kamms die gespreizten Finger benutzt, und er rauchte - wenn er sich in den vergangenen sechs Monaten nicht radikal verändert hatte, ein Zeichen höchster Erregung. Und seine Besucher boten ein kaum weniger auffälliges Bild. Beide sahen ungefähr so frisch und ausgeruht aus, wie Mark sich fühlte, und er schätzte beide auf Anfang fünfzig - aber damit hörten ihre Gemeinsamkeiten auch schon wieder auf. Der Mann am Telefon trug einen Trenchcoat, dem man auf hundert Meter ansah, daß er aus einem Designerladen stammte und ein mittleres Vermögen gekostet haben mußte, und darunter einen offenbar maßgeschneiderten Anzug. Sein Haar war streng zurückgekämmt und begann sich an den Schläfen deutlich zu lichten, der Gesichtsausdruck hatte etwas Verbissenes.