»Löbach war nicht mehr unser Angestellter«, unterbrach ihn sein Vater scharf. »Ich habe ihn schon vor einem halben Jahr entlassen.«
»Warum?«
»Seit wann interessierst du dich für meine Firma?« schnappte sein Vater. »Aber bitte: Er hatte angefangen zu trinken. Ich habe keine Ahnung, warum, und ich will es auch nicht wissen. Frauen, nehme ich an. Oder Geld. Vielleicht auch beides. Was weiß ich. Ich habe ihn zweimal gewarnt und dann gefeuert.«
Das klang einleuchtend und entsprach auch durchaus dem Charakter seines Vaters - aber es überzeugte Mark trotzdem nicht endgültig. Er hatte Löbach zwar wirklich nicht besonders gut gekannt, aber immerhin wußte er, daß er einer der wichtigsten und vor allem ältesten Angestellten seines Vaters gewesen war. Einen solchen Mann feuerte man nicht einfach so, weil er ein Alkoholproblem hatte oder anderen Ärger.
»Und jetzt ist er tot«, sagte Mark.
»Das ist nicht meine Schuld«, blaffte sein Vater. »Was ist los mit dir? Bist du -« Er brach mitten im Satz ab, starrte Mark eine geschlagene Sekunde lang aus brennenden Augen an - und dann ging eine ganz erstaunliche Veränderung mit ihm vonstatten. Der Zorn, jener Ausdruck, den Mark so oft auf seinen Zügen gesehen hatte, daß er sich sein Gesicht manchmal schon gar nicht mehr anders vorstellen konnte, verschwand urplötzlich und wich etwas, das ihn an den Ausdruck in Mariannes Augen vorhin erinnerte, nur daß es bei seinem Vater viel verwirrender wirkte. Er atmete hörbar ein, entspannte sich sichtbar und sagte mit einer Sanftmut, die Mark erneut und noch mehr überraschte: »Lassen wir das, okay? Ich glaube, wir haben jetzt wohl Wichtigeres zu tun, als uns zu streiten. Wie geht es dir?«
Im ersten Moment verstand Mark die Frage nicht einmal wirklich; er argwöhnte eine der rhetorischen Fallen, in die sein Vater seine Gesprächspartner mit Vorliebe lockte - wobei er auch bei seinem eigenen Sohn keine Ausnahme gemacht hatte -, aber die Sorge in seinen Augen sah tatsächlich echt aus. Vorhin, als er den Gedanken das erste Mal erwogen hatte, hatte er nicht ernsthaft geglaubt, daß Prein seinem Vater wirklich die Geschichte von seiner Krankheit und dem Erholungsurlaub aufgetischt haben könnte. Aber es sah tatsächlich so aus, als wäre es so.
»Gut«, sagte er. »Ich bin nicht krank.«
»Ja, du siehst aus wie das blühende Leben«, sagte sein Vater ironisch.
»Ich habe schlecht geschlafen«, antwortete Mark. »Aber das ist auch schon alles. Ich bin nicht krank, und ich war es auch nicht.«
»Aber dein Direktor -«
»- ist ein sehr netter Mann«, unterbrach ihn Mark. »Ich nehme an, er hat dir diese Geschichte erzählt, um mir einen Gefallen zu tun - schließlich kennt er dich. Aber sie ist nicht wahr. Er hat mich nicht nach Hause geschickt, damit ich mich erhole. Ich bin von mir aus gegangen. Und ich kehre auch nicht zurück ins Internat.«
Diesmal vergingen Sekunden, bis sein Vater reagierte. Aber er tat es auch jetzt wieder auf eine völlig unerwartete, untypische Art. Daß Mark seinen Vater nicht gerade liebte, bedeutete nicht, daß er ihn für dumm hielt. Im Gegenteil - er war sicher, daß er sofort begriffen harte, was seine Worte bedeuteten. Und trotzdem fuhr er auch jetzt nicht hoch, machte ihm keine Vorhaltungen oder ließ die eine oder andere Drohung hören - mit alledem hatte Mark gerechnet und war darauf vorbereitet, so gut er konnte - sondern sah ihn nur ruhig und irgendwie resignierend an, ehe er sagte: »Ich verstehe. Du hast nicht viel Zeit verloren. Bei der Gelegenheit: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
»Danke«, antwortete Mark. »Und das ist alles?«
»Dein Geschenk ist bestellt, aber noch nicht -«
»Das meine ich nicht, und das weißt du auch verdammt genau«, fiel ihm Mark ins Wort. Es fiel ihm immer schwerer, ruhig zu bleiben. Die so vollkommen unerwartete Gelassenheit, die sein Vater an den Tag legte, machte ihn rasend. »Willst du mir nicht erklären, daß ich verrückt bin? Oder mich ein bißchen anschreien und mir befehlen, sofort wieder ins Internat zurückzukehren?«
»Hätte das denn Sinn?« fragte sein Vater sanft. Er machte eine einladende Geste auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch, vor dem Sendig zuvor gestanden hatte. »Setz dich, Mark. Ich glaube, wir sollten uns unterhalten - auch wenn es kein besonders glücklicher Moment ist.«
Mark gehorchte ganz automatisch - und ärgerte sich ebenso automatisch sofort wieder über sich selbst, daß er seinen Part in diesem uralten Spiel von Befehlen und Gehorchen so bereitwillig weiterspielte. Aber selbst dieser Ärger War nicht mehr wirklich echt. Sein mühsam kultivierter Zorn begann bereits wieder zu verrauchen. Offenbar hatte er sehr viel weniger davon gehortet, als er selbst geglaubt hatte. Mit einer Stimme, die sehr viel mehr von seiner Unsicherheit verriet, als ihm recht war, sagte er: »Wenn du versuchen willst, mich umzustimmen, kannst du dir die Mühe sparen.«
»Natürlich will ich das«, sagte sein Vater. »Aber keine Sorge - ich werde dir weder etwas befehlen, noch versuchen, dich zu etwas zu überreden, was du nicht wirklich willst.«
War es wirklich Zufall, dachte Mark, daß er fast die gleichen Worte benutzte wie Prein am vergangenen Abend, oder redeten einfach alle Erwachsenen so?
Und hatten sie vielleicht recht damit?
»Ich wußte, daß du so etwas tun würdest«, sagte sein Vater. »Ich habe nicht so schnell damit gerechnet, aber in den nächsten Tagen oder Wochen schon. Es war nicht schwer zu erraten.«
Plötzlich wünschte sich Mark, er wäre zehn Jahre jünger - dann hätte er vor lauter Enttäuschung und Frustration wenigstens laut losheulen können. Standen ihm seine Gedanken eigentlich in roten Leuchtbuchstaben auf der Stirn geschrieben, oder benahm er sich wirklich so vorhersehbar?
»Dein Direktor wollte dir wahrscheinlich wirklich einen Gefallen tun, indem er mir diese kleine Notlüge aufgetischt hat, aber es wäre nicht nötig gewesen. Ich bin dir nicht böse. Im Gegenteil - ich bin froh, daß du nach Hause gekommen bist, statt irgendeinen Unsinn zu machen und dich vielleicht in drei Monaten aus Alaska zu melden.«
»Das ist gar keine schlechte Idee«, sagte Mark. »Vielleicht hätte ich es tun sollen.«
»Dazu bist du zu klug«, behauptete sein Vater. »Du gibst es im Moment vielleicht nicht zu, aber du bist gar nicht so rebellisch, wie du tust. Jedenfalls nicht rebellisch genug, um auf gewisse... Bequemlichkeiten zu verzichten.«
»Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete Mark. Soviel, fügte er in Gedanken hinzu, zum Thema: überraschendes Verhalten. Sein Vater war gar nicht so verständnisvoll und geduldig, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte - es war einfach nur eine andere Taktik, die nichts mit Respekt zu tun hatte, sondern vielleicht nur seinem Alter angepaßt war. Und jetzt war der Zorn wieder da, nach dem er vorhin vergeblich gesucht hatte. »Vielleicht freue ich mich seit Jahren darauf, auf die Bequemlichkeiten verzichten zu dürfen, die du mir bereitest.«
»Kaum«, sagte sein Vater ruhig. »Du wirst bestimmt nicht -«
»Du hast mich vorhin gefragt, wo ich war«, fiel ihm Mark ins Wort. »Ich habe dir zwar geantwortet, aber es war eine Lüge. Ich bin schon seit dem frühen Morgen in der Stadt, weißt du. Ich war bei Mutter.«
»Ich weiß«, sagte sein Vater gelassen. »Jemand aus dem Stift hat mich angerufen.«
»Wer?« fragte Mark scharf. Schwester Beate? Das war möglich, aber er konnte es sich kaum vorstellen - vielleicht, weil es ihn sehr enttäuscht hätte.
»Das spielt keine Rolle«, sagte sein Vater.