Er schloß die Tür und ging zur Treppe. Sein Zimmer lag im Erdgeschoß, gleich unten neben der Haustür, aber er wurde immer langsamer, während er die Treppe hinunterging - obwohl er tatsächlich so müde war, wie er behauptet hatte. Trotzdem. Irgendwie spürte er, daß dies ein wichtiger Moment war, den er nicht mit Schlafen vergeuden sollte, wenigstens nicht gleich. Er war nach Hause gekommen, nicht für eine Stippvisite zwischendurch, nicht als Besucher für zwei, drei Tage oder eine Woche, sondern endgültig. Eine Heimkehr war immer etwas Besonderes, selbst wenn sie unter so unglückseligen Vorzeichen stattfand wie diese. Und eine Heimkehr war es. Es spielte keine Rolle, ob er für immer gekommen war oder vielleicht auch diesmal nur für wenige Tage. Was zählte, war allein, daß er zu Hause war, an dem Ort, an den er gehörte.
Es war ein sonderbar wohltuender Gedanke - und zugleich einer, der Mark sehr verwirrte, denn er widersprach so ziemlich allem, was er in den letzten Wochen und Monaten gedacht und selbst heute morgen noch empfunden hatte. War er nicht sicher gewesen, dieses Haus und vor allem seinen Hausherrn zu hassen? Hatte er nicht allen Grund, Groll gegen seinen Vater zu empfinden, den Mann, der ihm seine Jugend und seiner Mutter das Leben gestohlen hatte? Nichts hatte sich daran geändert. All diese Gefühle waren noch da, ebenso präsent wie am Morgen. Und trotzdem - es wurde ihm erst jetzt wirklich bewußt, aber im gleichen Moment, als er das Haus betreten hatte, war etwas in ihm geschehen. Er war nach Hause gekommen, zum ersten Mal seit sechs Jahren wirklich.Er war an dem Ort, an den er hingehörte.
Er hatte das Ende der Treppe fast erreicht, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Marianne, die ihm wahrscheinlich nacheilte, um ihm die Tür zu offnen, sein Bett aufzuschlagen und ihn auf genau die aufdringlich liebenswerte Art zu bemuttern, auf die sie es vom Tag seiner Geburt an getan hatte. Wahrscheinlich, dachte er spöttisch, hatte sein Vater sie bereits instruiert, ihm das königliche Prinzgemach zu richten und ein Glas warme Milch mit Honig bereitzustellen. Das war auch etwas, was er ändern würde, und zwar schnell. Marianne war zwar tatsächlich so etwas wie eine Ersatzmutter für ihn - und in den letzten Jahren mehr, als es seine richtige Mutter je gewesen war -, aber er würde ihr trotzdem erklären, daß er nicht mehr acht, sondern achtzehn war und sich somit das eine oder andere in ihrem Verhältnis ändern mußte.
Aber nicht heute. Nicht jetzt. Im Augenblick empfand er den Gedanken, ein wenig bemuttert zu werden, als ganz angenehm.
Er trat von der letzten Stufe herunter und drehte sich herum, weil er ihre Nähe spürte, aber hinter ihm war nichts.
Er spürte genau, daß er nicht allein war. Jemand war hier. Er spürte es, mit der unerschütterlichen Sicherheit eines Raubtieres, das Witterung aufgenommen hatte, dem Instinkt eines Blinden, der die unmerkliche Veränderung des Luftdrucks in seiner Nähe fühlte, er... wußte einfach, daß jemand hier war. Aber er war allein. Über ihm lag nichts als die Treppe und der perspektivisch abgeschnittene Rest des Korridors, und jetzt konnte er Marianne auch hören: Sie hantierte in der Küche unten mit Geschirr und summte dabei leise vor sich hin, wie sie es seit eh und je tat; und so falsch wie eh und je.
Was?
Marks Atem beschleunigte sich, und seine Hände begannen zu zittern. Was geschah hier? Was geschah mit ihm? Er machte einen unsicheren Schritt zurück, senkte den Blick und sah seinen Schatten, der als schwarzes Leporello vor ihm die Treppenstufen hinaufgefaltet war, aber er sah auch den anderen, zweiten Schatten, der dicht neben seinem eigenen stand, etwas kleiner, schlanker, der eines Mädchens oder einer sehr zierlichen Frau, ein Schatten, der keinen Körper hatte, sondern einfach nur da war, als hätte das Sonnenlicht oder der, der es schickte, einen Teil des Universums ausgelassen, vielleicht, weil es verboten war, weil dieser Teil etwas verbarg, dessen Anblick tödlich gewesen wäre, oder Schlimmeres.
Mark fuhr herum und hätte durch die hastige Bewegung fast das Gleichgewicht verloren. Sein Herz hämmerte jetzt so schnell, als wollte es aus seiner Brust heraushüpfen. Er war allein. Allein. Niemand war hier. Nur er und der Schatten, und das unsichtbare Etwas, das ihn warf.
Er strauchelte, fand mit einer instinktiven Bewegung am Treppengeländer Halt und preßte für eine Sekunde so fest die Lider zusammen, daß es weh tat und er bunte Sterne und Farbblitze sah. Als er die Augen wieder öffnete, war der Schatten verschwunden.
Weil er nie dagewesen ist! Er versuchte sich zur Ruhe zu zwingen, bot jedes Quentchen Logik und Verstand und Selbstbeherrschung auf, das er noch in sich fand. Da war kein Schatten. Da war nie einer gewesen. Übermüdung, Streß, Angst, Zorn, Frustration und Verwirrung - es gab tausend gute Gründe, Halluzinationen zu haben, aber keinen einzigen, tatsächlich ein Gespenst zu sehen. Jedenfalls keinen guten.
Doch das Wunder geschah. Gerade in dem Moment, in dem er spürte, wie die Barrieren aus Vernunft und logischem Überlegen zu wanken begannen, zog sich der Schrecken zurück. Sein Herz raste immer noch, und seine Hände zitterten so heftig, daß er es auch mit aller Macht nicht unterdrücken konnte, aber der schwarze Sumpf aus Wahnsinn, in dem er zu versinken begonnen hatte, war plötzlich weg.
»Mark?«
Diesmal war es wirklich Marianne. Mark sah auf und blickte in ihr schmales Gesicht, auf dem sich ein Ausdruck erschrockener Überraschung breitmachte. Er hatte nicht gehört, daß sie die Küche verlassen hatte und hergekommen war. »Was ist los mit Ihnen?«
»Nichts«, sagte Mark. »Was soll denn sein?« Er versuchte zu lächeln, konnte es aber nicht. Seine eigene Stimme klang wie die eines Fremden in seinen Ohren.
»Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört.« Marianne kam näher, und die Überraschung in ihren Augen wurde nun eindeutig zu Sorge. »Ist auch wirklich alles in Ordnung? Sie sind kreidebleich.«
»Ich fühle mich nicht gut«, antwortete Mark. »Aber es ist nichts. Ich bin nur müde, das ist alles.«
Marianne sah ihn auf eine Art an, die jede Erklärung dazu, was sie von seiner Antwort hielt, überflüssig machte, und wäre die Situation auch nur ein wenig anders gewesen, hätte Mark sicher gelächelt - er war noch nie ein guter Lügner gewesen, und Marianne etwas vorzumachen war schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Aber die Situation war nicht anders, und so nickte er nur noch einmal schwach und sagte erneut und sehr leise: »Nur müde.«
11. Kapitel
»Irgend etwas stimmt nicht«, sagte Sendig, während seine Finger nervös auf das Lenkrad trommelten. Er sah Bremer nicht an, und er hatte auch ziemlich leise und wohl gar nicht direkt zu ihm gesprochen, sondern mehr zu sich selbst; und wahrscheinlich hatte er auch nicht damit gerechnet, eine Antwort zu bekommen. Sie saßen seit gut fünf Minuten im Wagen vor der Sillmann-Villa, und Bremer hatte die gleiche Zeit vergeblich darauf gewartet, daß Sendig losfuhr oder irgend etwas sagte. Aber sein neuer Vorgesetzter und Kollege hatte weder das eine noch das andere getan, sondern nur wortlos vor sich hin gestarrt, während seine Finger den Takt zu einer Melodie auf dem Lenkrad trommelten, die Bremer erkennen zu wollen aufgegeben hatte. Er sah sehr besorgt aus, und aus einem Grund, den Bremer sich nicht richtig erklären konnte, auch sehr zornig.
»Etwas stimmt ganz und gar nicht.«
»Mit wem?« fragte Bremer. »Sillmann?«
»Nein«, antwortete Sendig, schüttelte den Kopf und verbesserte sich selbst: »Oder doch. Aber ich meine nicht den Alten. Der Junge, Mark.«
Der unwillige Ton in seiner Stimme korrespondierte mit seinem Gesichtsausdruck, aber Bremer hatte das sichere Gefühl, daß beide nichts miteinander gemein hatten. Vielmehr hatte Sendig in einem Ton gesprochen, der ihm klarmachte, daß er seine Frage für überflüssig hielt, es vielleicht auch nicht gewohnt war, von einer Kreatur so niedrigen Standes, wie sie ein gemeiner Streifenpolizist darstellte, angesprochen zu werden. Trotzdem fuhr Bremer fort: »Was soll mit ihm sein?«