Unweit der Tür befand sich ein Sekretär, der in seiner schlichten Form schon fast einen Anachronismus darstellte und mit Papieren und den allgegenwärtigen Kerzen übersät war. Er wollte näher herangehen, um einen Blick auf die Papiere zu werfen, aber das hätte auch bedeutet, sich der Tür zu nahem, und irgend etwas hielt ihn davon ab. Es gab keinen logischen Grund dafür (logisch? Nichts von dem, was er hier erlebte, war in irgendeiner Form logisch!), aber die Angst war wieder da; die Spinne im Netz war sprungbereit, und sich der Tür zu nähern hieße, ihre Fäden zu berühren und sich darin zu verwickeln.
Statt dessen machte er beinahe erschrocken einen Schritt zurück und geriet dabei wieder zwischen die Gestalten am Boden.
Der Kreis schloß sich.
Aus dem Alptraum von gestern wurde der von heute.
Das dunkle Dröhnen des metallenen Herzschlages hielt an, aber der Gesang verstummte für einen Moment. Ein Dutzend Gesichter wandte sich ihm zu, bleich, tot und mit erloschenen Augen, und dahinter, noch nicht ganz die Grenze des wirklich Sichtbaren erreichend, aber schön da, war die Lichtgestalt. Der Todesengel, der erneut gekommen war, um ihn zu holen.
»Du hast uns verraten, Mark. Du hast uns alle getötet.«
Er schrie. Es war ein lautloser Schrei, denn seine Kehle war zugeschnürt, aber er hallte in seinem Kopf wider und machte aus der schwarzen Spinne der Furcht einen rasenden Wirbel, der sein klares Denken und seine Vernunft verschlang. Entsetzt riß er die Arme vor das Gesicht und taumelte rückwärts vor der Gestalt davon, die vor ihm aus dem Licht trat und die Hände nach ihm ausstreckte.
»Du hast uns verraten. Wir haben dir vertraut, und unser Leben war der Preis.«
Mark taumelte weiter. Er prallte gegen die Wand, schlug wimmernd die Hände vor das Gesicht und krümmte sich wie unter Schlägen, obwohl die Gestalt nicht näher gekommen war, sondern ihm im gleichen Abstand folgte, was das Geschehen nun vollends zum Alptraum werden ließ. Der unsichtbare Verfolger aller bösen Träume aller Zeiten war da, die Schimäre, die immer hinter einem war, immer Schritt hielt, ganz gleich, wie schnell oder langsam man auch lief. Aber dieser Vergleich war ungefähr und einseitig - in einem Traum konnte einem das Monster nichts tun, solange man sich nicht herumdrehte und es ansah, aber dieses Geschöpf kam näher, langsam, aber unerbittlich.
Marks Rücken schrammte an rauhem Stein und an rostzerfressenem Metall entlang, und er spürte, wie sich die Tür schwerfällig hinter ihm bewegte, sich öffnete. Er wollte nicht hindurchgehen.
Er durfte es nicht.
Wenn er es tat, dann würde er sterben. Hier und jetzt und endgültig - und vielleicht nicht einmal wirklich tot sein, sondern für alle Zeiten in diesem Alptraum gefangen.
Wimmernd vor Angst wich er weiter zurück, und auch die Tür bewegte sich weiter. Langsam und träge und mit der Schwerfälligkeit ihres großes Gewichtes, aber auch dessen Beharrlichkeit.
Der Herzschlag wurde lauter, als die Tür sich weiter öffnete. Mark schrie erneut, taumelte zurück und riß die Arme herunter, um mit einer rudernden Bewegung um sein Gleichgewicht zu kämpfen. Die Gestalt war jetzt ganz nahe; ein bleicher Schemen ohne klar umrissene Konturen oder Gesicht, aber von tödlicher Bedrohung.
»Mark!«
Er schrie. Diesmal wirklich und so laut, daß sein Hals schmerzte. Die Tür in seinem Rücken schwang weiter auf, und irgend etwas war da. Er wollte nicht hindurchgehen. Was immer es war, es erfüllte ihn mit panischer Angst: einer Furcht, die noch größer war als die vor dem Todesengel, der ganz langsam näher kam und nun die Arme ausstreckte. Vielleicht würde ihn seine Berührung töten, vielleicht ihm etwas Schrecklicheres antun, doch was immer es war, es konnte nicht schlimmer sein als das, was hinter der Tür lauerte.
Mark fand mit wild fuhrwerkenden Armen seine Balance wieder, stieß sich von der zurückweichenden Barriere aus rostigem Eisen ab und schlug blind vor Furcht um sich.
»Mark!«
Der erste Schlag ging ins Leere, aber sein zweiter Hieb traf und schleuderte die unheimliche Erscheinung zurück. Ein gellender Schrei schnitt wie ein Messer in seine Gedanken, und gleichzeitig spürte Mark, wie er erneut und von der Wucht seines eigenen Hiebes zurückgeworfen das Gleichgewicht verlor und jetzt wirklich stürzte, rückwärts hindurch durch die Tür, hinter der das Grauen lauerte und...
... mit einem erstickten Keuchen hochfuhr. Sein Herz schlug mit kurzen, harten Stößen gegen seine Rippen, und seine Kehle schmerzte von den Schreien, die er ausgestoßen hatte. Er zitterte am ganzen Leib, und im ersten Moment wußte er nicht wirklich, wo er war, sondern wähnte sich weiter in jenem schrecklichen Raum hinter der Eisentür. Alles drehte sich um ihn, Licht und Schatten führten einen irren Veitstanz auf, und er hörte noch immer jenen dröhnenden schweren Herzschlag. Er wußte, daß er wach und der Traum vorüber war, aber zugleich schien es ihm nicht zu gelingen, wirklich in die Realität zurückzukommen. Sein Erwachen war weder ein sanftes Gleiten noch ein jäher Sturz von der einen in die andere Wirklichkeit gewesen, vielmehr schien er in einer klebrigen Membran verstrickt, die beide Welten voneinander trennte und ihn mit zäher Kraft zurückzuhalten versuchte. Er keuchte vor Anstrengung, fiel zurück und setzte sich abermals mit rudernden Armen auf, und in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen, und sein Vater stürmte herein. Marks Erinnerungen fügten im nachhinein seine polternden schweren Schritte auf der Treppe hinzu, die er wahrgenommen, aber nicht registriert hatte. Offenbar hatte er laut genug geschrien, um seinen Vater am anderen Ende des Hauses zu alarmieren. Sein Gesicht war schreckensbleich, und sein Atem ging so schwer, daß er die Worte nur als kaum verständliches Keuchen hervorstieß: »Mark, was ist los? Was - ?«
In seinem Gesicht erschien ein neuer, noch größerer Schrecken, und seine Augen weiteten sich, als sein Blick auf einen Punkt am Boden neben Marks Bett fiel. »Mein Gott, was ist hier passiert?« flüsterte er.
Mark verstand im allerersten Moment kein Wort. Der Schrecken im Gesicht seines Vaters paßte zu gut zu seinen eigenen Empfindungen in diesem Augenblick, als daß er auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, einen besonderen Grund dafür zu suchen. Aber dann folgte er dem Blick seines Vaters und sah die Gestalt, die vor seinem Bett lag, und dieser Anblick zerriß die Membran endgültig, deren klebrige Reste ihn bisher noch festgehalten harten. Noch während er sich mit einem Ruck zur Seite schwang und in einer einzigen fließenden Bewegung halb vom Bett fiel, halb herunterglitt, um neben Marianne niederzuknien, ordneten sich die durcheinanderwirbelnden Bilder in seinem Kopf zu einem Puzzle, das Alptraum und Realität gleichermaßen umfaßte. Nicht alles hatte zu jener surrealistischen Welt des Kellers gehört. Die Stimme, die zweimal seinen Namen gerufen hatte, gehörte Marianne, und der pochende Schmerz in seiner rechten Hand erzählte den Rest der Geschichte: Offensichtlich hatte sich Marianne über ihn gebeugt, um ihn wachzurütteln, weil er im Schlaf geschrien hatte, und ebenso offensichtlich hatte er sie niedergeschlagen.