»So ungefähr«, sagte Mark. Er war ein bißchen verlegen. Natürlich konnte Petri nicht wissen, was er über ihn gedacht hatte, aber er wußte es, und das allein reichte, ihn sich unwohl fühlen zu lassen. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, sich bei Petri zu entschuldigen.
»Wie die Zeit doch vergeht«, murmelte Petri. Plötzlich erschien ein Ausdruck leiser Sorge auf seinem zerfurchten Gesicht. »Aber was ist denn eigentlich passiert? Meine Sprechstundenhilfe sagte nur, daß ich vorbeikommen soll und daß es eilig wäre. Es ist doch nichts mit Ihrem Vater?«
»Marianne«, verbesserte ihn Mark kopfschüttelnd. »Es hat einen kleinen Unfall gegeben.«
»Ein Unfall?« Petri wirkte alarmiert. Vielleicht mehr, als er sollte.
»Es ist wirklich nichts Schlimmes, Doktor.« Marks Vater erschien unter der Tür und riß allein durch sein Auftauchen die Regie der Szene wieder an sich. Er lächelte knapp und ohne echtes Gefühl und fuhr fort: »Aber Mark hat schon recht - es ist besser, Sie sehen nach ihr. Kommen Sie, Doktor.«
Petri wirkte nun vollends verwirrt, aber sein Vater war nun wieder vollkommen zu dem Mann geworden, als den er ihn in Erinnerung hatte: Er sprach weder besonders laut noch mit besonderer Betonung, doch sein Wort war Befehl, der keinen Widerspruch duldete. Mark gestand es sich ungern ein, aber selbst er spürte die Autorität, die sein Vater ausstrahlte.
»Mark, wartest du bitte oben in der Bibliothek? Ich komme dann sofort nach.«
»Sicher.«
13. Kapitel
»Warum muß es eigentlich immer so sein?« fragte Bremer. »Hat denn plötzlich niemand mehr den Anstand, Schlaftabletten zu nehmen, sich zu erschießen oder wenigstens ins Wasser zu gehen?«
»Ich finde das nicht komisch«, sagte Sendig. Unter normalen Umständen hätte allein die Schärfe in seiner Stimme ausgereicht, Bremer zu alarmieren. Aber jetzt hob er nicht einmal den Blick, sondern sagte nur sehr leise und sehr ernst: »Es war auch nicht witzig gemeint. Aber ich weiß nicht, wie lange ich das noch ertrage. Auch ich habe nur Nerven, wissen Sie.«
Und die liefen im Moment beinahe Amok - zumindest die in seinem Magen und einigen anderen, tiefergelegenen Innereien. Dabei war der Anblick des Toten nicht einmal annähernd so schlimm wie der Löbachs in der vergangenen Nacht. Was ihn trotzdem beinahe schlimmer machte, war, daß er ihm ähnelte und Bremer wieder an das zerschmetterte blutige Etwas erinnerte, das zwischen Hansen und ihm auf dem Straßenpflaster gelegen hatte. Der Anblick von Mogrods Leichnam machte die Erinnerung an Löbach wieder lebendig und gab ihr eine Realität, die ihr nicht zustand.
»Beherrschen Sie sich«, sagte Sendig noch einmal - und er sagte es nicht nur überraschend sanft, sondern fügte nach einem kaum merklichen Zögern etwas noch viel Überraschenderes hinzu - zumindest für jeden, der ihn kannte: »Wenigstens so lange, wie wir nicht alleine sind. Sie tragen Uniform.«
Er atmete hörbar ein, ehe er sich mit einem sichtlichen Ruck vom Anblick des Toten losriß und herumdrehte. »Kommen Sie, Bremer. Sehen wir uns die Wohnung dieses Herrn Mogrod an.«
War es schon seine bisher ungewohnt großmütige Stimmung gewesen, die Bremer alarmiert hatte, so nun spätestens die Art, auf die Sendig Mogrods Namen aussprach. Es war nicht irgendein Name. Er bedeutete etwas für Sendig, und ganz offensichtlich erwartete er, daß er das für ihn ebenso tat. Während er Sendig über die abgesperrte Straße zum Haus hin folgte, kramte er angestrengt in seinen Erinnerungen. Aber da war nichts. Er hatte sich den Toten sehr genau angesehen, und anders als gestern abend gab es hier nichts, was er hätte wiedererkennen können. So war er sehr sicher, diesen Mann noch nie im Leben gesehen zu haben, und er hatte auch seinen Namen noch nie gehört; wenigstens nicht in einem Zusammenhang, der des Erinnerns wert gewesen wäre. Und was diese Gegend hier betraf ...
Bremer warf einen raschen Blick in die Runde. Die Straße gehörte nicht zu seinem Revier, und schon gar nicht zu den Gegenden, in denen er sich aufzuhalten pflegte, wenn er nicht im Dienst war. Die Ähnlichkeit zwischen Löbachs und Mogrods Tod war nicht total - die Regie mochte die gleiche sein, aber die Kulissen waren so verschieden, wie sie nur sein konnten. Das Haus, aus dessen Fenster sich Mogrod gestürzt hatte, als schäbig zu bezeichnen, wäre noch geschmeichelt gewesen. Es war eine bessere Ruine - nein, keine bessere, es war eine Ruine. Falls es jemals einen Anstrich erlebt hatte, war er längst zusammen mit dem größten Teil des Putzes in Staub aufgegangen; unter dem ungleichmäßigen Lochmuster kam grauer Ziegelstein zum Vorschein, in dem der Schwamm nistete. Die Fenster begannen herauszufaulen, und zumindest im Erdgeschoß mußten wohl einige Wohnungen leerstehen; es sei denn, ihre Bewohner liebten es, ohne Scheiben zu leben. Als sie das Haus betraten, schlug ihnen ein muffig-feuchter Geruch entgegen, der ihnen im ersten Augenblick fast den Atem nahm.
»Hübsch, nicht?« fragte Sendig.
»Ja«, antwortete Bremer. »Wie gut, daß ich nicht bei der Baupolizei bin. Wäre ich es, hätte ich jetzt für einen Monat zusätzliche Arbeit.«
»Mindestens«, pflichtete ihm Sendig bei. »Das sieht nicht gerade so aus wie das Haus, in dem Löbach gewohnt hat, finden Sie nicht?«
»Wieso?« fragte Bremer. Er sah Sendig scharf an, aber sein Gesicht verriet nichts, außer einem Ausdruck leiser Konzentration, den ihm die Anstrengung abverlangen mochte, die knarrenden Holzstufen hinaufzueilen. Selbst Bremer spürte nach der zurückliegenden Nacht jede einzelne Stufe, die sie hinaufgingen, und immerhin war Sendig gute zehn Jahre älter als er und hatte seit gut zwanzig Jahren einen Schreibtischjob.
»Weil es eigentlich so sein sollte«, antwortete Sendig mit bedeutsamer Verzögerung.
»Und warum?«
Sie hatten den ersten Stock erreicht. Vor ihnen lag ein kurzer, schmuddeliger Flur mit insgesamt vier Türen. Alle standen offen, und ein gutes Dutzend Gesichter starrte sie neugierig an - jedenfalls so lange, bis Bremer weit genug ins Licht trat, daß man seine grüne Uniformjacke erkennen konnte. Dann verschwanden zwei oder drei der gaffenden Gestalten hastig. Eine Tür wurde mit einem Knall zugeschlagen, und ein Viertel des Lichtes verschwand. Bremer sah automatisch hoch und erkannte, daß es keine Flurbeleuchtung gab - wo die Lampe hängen sollte, kräuselten sich nur zwei abgerissene Drahtenden aus der Decke, Was für eine fürchterliche Bruchbude!
»Was haben Löbach und dieser Mogrod miteinander zu tun?« fragte er, nachdem sie das Ende des Korridors erreicht hatten und die Treppe zum zweiten Stockwerk in Angriff nahmen. In welcher Etage hatte Mogrod gewohnt? Der vierten oder fünften?
»Nun, zum einen, daß sie tot sind«, antwortete Sendig kurzatmig. »Der Name sagt Ihnen wirklich nichts?«
Bremer schüttelte den Kopf und sparte sich den Atem, laut zu antworten.
»Schade«, sagte Sendig. »Ich hatte gehofft, daß Sie sich erinnern. Aber möglicherweise haben Sie ihn damals ja gar nicht kennengelernt.«
»Wen?« fragte Bremer betont. »Diesen Mogrod? Wer war er?«
»Eine Ratte«, antwortete Sendig. »Ein Fotoreporter - jedenfalls nannte er sich selbst so. Aber nicht unbedingt eine Zierde seines Berufsstandes. Ich konnte den Kerl nicht ausstehen. Schon vorher nicht.«
Damit hatte Mogrod sich wahrscheinlich in der Gesellschaft des allergrößten Teiles der übrigen Menschheit befunden, dachte Bremer. Er gab sich ja alle Mühe, Sendig irgend etwas Positives abzugewinnen, aber es gelang ihm immer weniger. Sendig hatte Mogrod nicht leiden können? Und? Bremer bezweifelte mittlerweile allen Ernstes, daß Sendig sich selbst leiden konnte. Sie erreichten das zweite Stockwerk, und als sie die dritte Treppe hinaufgingen, fragte Sendig unvermittelt: »Erinnern Sie sich, was ich Ihnen heute morgen erzählt habe? Daß damals nach der Geschichte mit Sillmann eine Menge Leute plötzlich Karriere gemacht haben?«