»Schon in Ordnung.« Sendig hob besänftigend die Hand und schenkte dem Mann seine Version eines freundlichen Lächelns. »Der Mann gehört zu mir. Warten Sie einen Moment, Bremer. Ich komme gleich. Und tun Sie Ihren Kollegen den Gefallen und rühren nichts an, okay?«
»Sicher.« Bremer zog sich hastig wieder in die Dunkelkammer zurück, ehe ihn die wütenden Blicke des Beamten von der Spurensicherung zur Salzsäule erstarren lassen konnten. Er war mit einem Male sehr aufgeregt. Diese Geschichte hatte erschreckend angefangen, war mysteriös weitergegangen und es auch bisher geblieben, aber allmählich begann sie sich von einer Gespenstergeschichte in etwas zu verwandeln, von dem er wirklich etwas verstand: einen Kriminalfall. In einem hatte Sendig vollkommen recht gehabt: Nichts von allem, was bisher geschehen war, war Zufall. Es gab eine Verbindung zwischen Löbach und Mogrod. Sie hing vor ihm an der Wand. Mogrod war garantiert nicht freiwillig aus dem Fenster gesprungen, dessen war sich Bremer jetzt sicher. Und Löbach wahrscheinlich auch nicht.
Ungeduldig wartete er darauf, daß Sendig endlich sein Gespräch beendete und hierherkam. Er hatte plötzlich eine Menge Fragen, die er seinem Wohltäter stellen mußte, und diesmal würde er sich nicht mit Ausflüchten und Halbwahrheiten abspeisen lassen.
Bremer machte einen weiteren Schritt zurück in den Raum, um die Fotos an der Tür aus etwas größerer Entfernung und damit in ihrer Gesamtheit betrachten zu können, aber es gab nicht sehr viel Platz, um irgendwohin zurückzuweichen. Er stieß gegen den Tisch, und irgend etwas fiel klappernd um und rollte über die Tischkante. Bremer machte eine hastige Bewegung zur Seite, um seine Hose vor Spritzern des Chemiegebräus am Boden zu schützen; möglicherweise ätzte das Zeug ja. Sein Blick streifte dabei wieder die vollkommen überentwickelten Fotos, die in der Lauge schwammen. Es waren ungefähr ein halbes Dutzend Blätter, DIN A4 groß und so schwarz, wie Fotografien nun einmal waren, wenn man sie ein paar Stunden lang entwickelt hatte.
Alle, bis auf eines.
Bremer stutzte. Etwas an diesem Bild war... falsch. Auf eine unheimliche Weise falsch und erschreckend. Das war der allererste, blitzartige Eindruck, den er hatte, ein Gefühl, das sehr dem ähnelte, das er draußen beim Betrachten der Fotografie des Panzers gehabt hatte, und der sich einstellte, ehe er wirklich sah, was daran so falsch war. Es war der Umstand, daß es dieses Bild gar nicht geben durfte.
Nicht so.
Nicht an diesem Ort.
Es lag wie alle anderen in einer fast zentimetertiefen Pfütze aus Chemie, die es eigentlich in einen schwarzen Spiegel hätte verwandeln müssen. Aber statt eines hoffnungslos überbelichteten Positivs zeigte das Blatt das genaue Gegenteiclass="underline" das Negativ einer dunkel gestrichenen Wand, auf der mit Blut das Wort AZRAEL geschrieben stand. Es war verschmiert und kaum entzifferbar, aber Bremer hatte es in der vergangenen Nacht zu deutlich gesehen, um es nicht zu erkennen. Und trotzdem war es nicht das, was ihn so erschreckte. Die chemische Unmöglichkeit, daß das Bild unbeschadet geblieben war, registrierte er nur am Rande, und sie spielte in diesem Moment auch keine Rolle.
Auf dem Bild war noch etwas. Etwas, das nicht nur chemisch, sondern überhaupt unmöglich war; und wenn schon nicht das, etwas, das einfach nicht sein durfte.
Ganz langsam ließ sich Bremer in die Hocke sinken und streckte die Hand nach dem Blatt aus. Seine Finger zitterten plötzlich heftig, und er spürte, wie sein Herz immer schneller und mit immer härteren Schlägen zu hämmern begann. Mit einem Male hatte er fast panische Angst, das Blatt zu berühren, aber zugleich war es ihm auch unmöglich, es nicht zu tun. So behutsam, als berühre er weißglühendes Eisen, zog er das Bild aus der Pfütze und hob es hoch.
»So, da bin ich!« Sendig kam mit einem einzigen energischen Schritt herein und blinzelte ein paarmal, um sich an das trübrote Licht zu gewöhnen.
»Was haben Sie denn so Wichtiges - ups!« Offenbar verfügte er über eine etwas anpassungsfähigere Sehkraft als Bremer, denn er erkannte sofort, was Mogrods Bilder zeigten.
»Donnerwetter!« murmelte er. »Da laust mich doch der Affe! Der Kerl ist tatsächlich heute nacht in der Wohnung gewesen! Das darf doch nicht wahr sein! Er muß buchstäblich vor unseren Augen hereingeschlichen sein!«
Bremer antwortete nicht. Er hörte Sendigs Worte zwar, aber es gelang ihm nicht, ihnen irgendeinen Sinn zuzuordnen. Er konnte nicht mehr denken. Sein Herz hämmerte wie mit Fäusten von innen gegen seine Brust, und seine Hände zitterten jetzt so stark, daß er fast Mühe hatte, das Foto zu halten.
»Wie zum Teufel kann eine solche Schweinerei passieren?« Sendig drehte sich halb zu Bremer herum und zog fragend die Augenbrauen zusammen. »Bremer? Was ist los mit Ihnen? Antworten Sie, Mann!«
Bremer konnte es nicht. Sein Blick hing wie gebannt an der Fotografie. Er konnte jetzt immer mehr Details erkennen, als beginne sich das Foto auf gespenstische Art vor seinen Augen doch noch zu entwickeln. Es zeigte die Wand, vor der Sendig und er in der vergangenen Nacht gestanden hatten, sogar aus dem gleichen Winkel und vermutlich der gleichen Entfernung aufgenommen. Aber es zeigte auch noch mehr.
»Was ist los mit Ihnen?« fragte Sendig erneut. Er klang jetzt alarmiert. »Ist Ihnen nicht gut? Was haben Sie da?«
Irgendwie gelang es Bremer schließlich doch, seinen Blick von der Fotografie loszureißen, aber er konnte immer noch nicht antworten. Vielleicht wollte er es auch gar nicht. Vielleicht hatte er Angst, auszusprechen, was er sah. Statt dessen drehte er das Blatt herum, so daß nun auch Sendig die Fotografie sehen konnte. Die Bewegung beanspruchte nicht einmal eine halbe Sekunde, aber in dieser winzigen Zeitspanne flehte Bremer darum, daß er sich getäuscht haben möge; daß Sendig ihn einfach nur verständnislos anblicken oder auch eine seiner gefürchteten spitzen Bemerkungen loslassen würde, alles - nur nicht, daß es wahr war.
Aber Sendig sah ihn nicht verständnislos an. Er machte auch keine ironische Bemerkung. Er starrte nur auf das Foto und sagte kein Wort, aber Bremer konnte selbst in der schwachen Beleuchtung hier drinnen deutlich sehen, daß sich sein Gesicht kreidebleich färbte.
14. Kapitel
Die Bibliothek kam ihm größer vor als sonst - und irgendwie stiller, als fehle etwas. Vielleicht lag es daran, daß er sehr selten allein hiergewesen war. In den letzten Jahren war er ja ohnehin nicht oft zu Hause gewesen, und eigentlich hatte er den Raum niemals betreten, ohne daß sein Vater dagewesen war. Der Anblick seines Vaters, der hinter dem wuchtigen Schreibtisch saß, telefonierte, an irgendwelchen Papieren arbeitete oder einfach nur dasaß, gehörte so untrennbar zu Marks Erinnerungen an diesen Raum wie die bis unter die Decke reichenden vollgestopften Bücherregale, das große Fenster in der Südseite mit seinen vielfarbigen Bleiglasscheiben und der Kamin, dessen Wände und Sturz schwarz von Ruß waren, obwohl Mark sich nicht erinnern konnte, ihn jemals brennen gesehen zu haben. Beinahe kam ihm die Situation absurd vor: Er war schließlich hier heraufgekommen, um nicht in der Nähe seines Vaters sein zu müssen, und trotzdem vermißte er ihn - und sei es nur aus Gewohnheit. Aber vielleicht bestand ja auch sein Leben weit mehr aus Gewohnheiten, als ihm bisher klar gewesen war.
Er schloß die Tür hinter sich, blieb einen Moment dagegengelehnt und mit geschlossenen Augen stehen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Er war scheinbar ganz ruhig. Aber eben nur scheinbar. Auf einer - nicht sehr viel - tiefer gelegenen Ebene seines Denkens war er aufgewühlt und nervös; wenn er sich bisher geweigert hatte, über Marianne nachzudenken, dann nicht, weil ihm das, was geschehen war, gleich gewesen wäre oder ihn gar kalt gelassen hätte, sondern einzig, weil über sie nachzudenken auch bedeutet hätte, sich zugleich wieder dem Grund dieses schrecklichen Unfalls zu stellen: dem Traum. Wenn es ein Traum war.