Mark lächelte nervös. Was sollte es sonst gewesen sein? Er begriff im allerletzten Moment, daß er nun doch begonnen hatte, über genau das nachzudenken, vor dem er eigentlich davonlaufen wollte, und drängte den Gedanken mit Macht zurück. Wenigstens versuchte er es. Natürlich ging es nicht. Es war die alte Geschichte von dem Schatz und dem weißen Pferd: Versprich einem Mann einen Topf voller Gold, wenn er nicht an ein weißes Pferd denkt, und natürlich wird er an nichts anderes mehr denken können. Es hatte eine Zeit gegeben (sie lag ungefähr zwölf Stunden zurück), da hätte er über diesen Vergleich gelächelt. Jetzt machte er ihm angst.
Um sich abzulenken, löste er sich von seinem Platz an der Tür und begann ziellos im Raum umherzugehen. Sein Blick glitt über die ordentlich aufgereihten Buchrücken in den Regalen, verharrte bei dem einen oder anderen Titel und suchte nach irgend etwas, woran er sich festklammern, was ihn auf andere Gedanken bringen konnte. Aber die Bücher waren nicht sehr ergiebig. Es gab einige wenige Romane - sie waren fast allesamt ungelesen - und eine schier unüberschaubare Flut von Fachliteratur von seinem Vater. Die gesamte Bibliothek gehörte seinem Vater, und bei allem, was zwischen ihnen gewesen war, begann er manchmal zu vergessen, daß sein Vater nicht nur ein sehr harter, sondern auch ein sehr gebildeter Mann war, ein Mann, der seinen Beruf liebte und wirklich gut darin war und der einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht hatte und es immer noch tat, zu lernen.
Vielleicht war es falsch gewesen, hierher zu kommen, dachte Mark. Hier oben war er in Gesellschaft seines Vaters, denn dieser Raum war so sehr Teil von ihm, wie es ein Zimmer nur sein konnte. Er trat vom Bücherregal zurück und spielte einen Moment lang ernsthaft mit dem Gedanken, wieder hinunterzugehen und in der Halle auf seinen Vater und Dr. Petri zu warten, wandte sich dann jedoch statt dessen um und trat an den Schreibtisch seines Vaters heran. Alles lag noch genauso da, wie er es am Morgen vorgefunden hatte, als er hereinkam und seinen Vater in der Gesellschaft der beiden Polizeibeamten sah.
Auch dies war keine angenehme Erinnerung. Er hatte die sonderbaren Blicke, mit denen ihn der ältere der beiden Beamten gemessen hatte, nicht vergessen, nur verdrängt, wie so vieles in letzter Zeit, und jetzt, als ihm der Anblick des Schreibtisches das Bild wieder deutlicher ins Gedächtnis zurückrief, erinnerte er sich auch wieder an das kurze, aber heftige Erschrecken im Gesicht seines Vaters, als er das Zimmer betrat. Und da war noch etwas gewesen.
Die Mappe. Neben dem Telefon lag noch immer der gelbe Aktendeckel, den sein Vater hastig geschlossen und dann beinahe zu beiläufig zur Seite geschoben hatte.
Mark trat zögernd näher. Wenn er bedachte, mit welchem Vorsatz er hierhergekommen war, war es geradezu lächerlich, aber trotzdem meldete sich plötzlich sein schlechtes Gewissen. Mark empfand einen großen Respekt vor der Privatsphäre anderer, schon weil er erwartete, daß auch seine eigene unbedingt respektiert wurde. Trotzdem streckte er nach einem kurzen Zaudern die Hand aus und öffnete die Mappe.
Sie enthielt eine Anzahl engbeschriebener Schreibmaschinenseiten und zwei oder drei Fotokopien, die er nur überflog, ohne daß ihr Inhalt ihm etwas sagte - und zwei übereinanderliegende Polaroidfotos. Auf den allerersten Blick konnte er auf dem oberen kaum etwas erkennen; es schien nur ein rotweißschwarzes Durcheinander zu zeigen, in dem es keine festen Konturen oder identifizierbare Umrisse gab.
Dann ordneten sich die ineinanderfließenden Farben plötzlich vor seinen Augen, und Mark fuhr erschrocken zusammen.
Das Bild zeigte ein Gesicht. Es war vollkommen zerschmettert, und kaum mehr als die Überreste eines menschlichen Wesens waren zu erkennen, und trotzdem wußte er sofort, wer der Mann auf dem Foto war. Löbach.
Marks Finger begannen heftig zu zittern, und in seinem Magen rührte sich eine beginnende Übelkeit, aber er zwang sich trotzdem, das Bild genauer zu betrachten. Am Morgen hatte er die Nachricht von Löbachs Selbstmord zwar zur Kenntnis genommen, aber mehr auch nicht. Das hier jedoch war etwas anderes. Das Foto ließ keinen Zweifel daran aufkommen, wie Löbach seinem Leben ein Ende gesetzt hatte, und es machte aus einer bloßen Information plötzlich wieder ein menschliches Schicksal. Er hatte Löbach zwar kaum gekannt, aber das wenige, was er über diesen Mann gewußt hatte, paßte einfach nicht zu diesem Bild.
Löbach war Chemiker gewesen; ganz wie sein Vater ein Mann, dessen Handeln fast ausschließlich Vom Intellekt bestimmt wurde, nicht von Gefühlen - auf keinen Fall ein Mann, der seinem Leben ein derart brutales Ende setzen würde. Er hatte es nicht nötig, sich so umzubringen. Und Mark verstand die scheinbare Kälte, mit der sein Vater auf die Nachricht von Löbachs Tod - und vor allem auf dieses Foto - reagiert hatte, jetzt noch sehr viel weniger als am Morgen. Die beiden Männer waren, wenn schon nicht Freunde, so doch langjährige gute Bekannte und Kollegen gewesen, und am Morgen noch hatte er die scheinbare Gelassenheit, mit der sein Vater auf seine Vorwürfe reagierte, für pure Selbstverteidigung gehalten.
Jetzt bezweifelte er das. Niemand, der ein Bild wie dieses sah, hätte wenige Minuten danach eine Gelassenheit vorspielen können, die er nicht wirklich empfand. Irgend etwas mußte zwischen Löbach und seinem Vater vorgefallen sein, von dem er nichts wußte.
Mark tastete mit spitzen Fingern nach dem Foto und schob es zur Seite, um die andere Aufnahme zu betrachten, wobei er sorgsam darauf achtete, Löbachs zerschmettertes Gesicht auf dem Bild nicht zu berühren. Dann fiel sein Blick auf das Polaroidfoto darunter, und er vergaß das Gesicht des toten Chemikers auf der Stelle.
Es war keine weitere Aufnahme Löbachs, wie er ganz automatisch angenommen hatte. Das Bild zeigte den Ausschnitt einer roh mit schwarzer Ölfarbe angemalten Wand, auf die mit dunkelroten fahrigen Großbuchstaben ein einzelnes Wort geschmiert worden war.
AZRAEL.
Es war wie ein Schlag in Marks Gesicht. Sein Magen zog sich zu einem harten Klumpen zusammen, der kleine feurige Schmerzpfeile in jeden Winkel seines Körpers verschoß, und er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufrichteten und gleichzeitig das Blut aus seinem Kopf wich. Plötzlich schien sich das Zimmer um ihn zu drehen, und jetzt hörte er auch den Herzschlag wieder, ein dumpfes, nachhallendes Hämmern, zu schwer und zu langsam für den eines Menschen. Für einen Moment glaubte er verschwommene Gestalten zu erkennen, die rings um ihn herum auf dem Boden saßen und sich an den Händen hielten, und durch die farbigen Buchrücken auf den Regalen schimmerte zerbröckelnder grauer Betonputz.
Nein, dachte er verzweifelt. Nein!
Es war zu spät. Die Schemen verdichteten sich zu Schatten. Die Tür in den Alptraum war geöffnet, bisher vielleicht nur einen winzigen Spaltbreit, und doch schon viel zu weit, um sie wieder zu schließen, denn da war plötzlich noch etwas, eine unvorstellbare Kraft, die sie weiter öffnete, die herüberdrängte, heraus aus der Welt des Unvorstellbaren in die des realen Schreckens. Die Schatten verdunkelten sich weiter, drohten zu Körpern zu werden und Gesichter zu bekommen. Und da war noch etwas. Das Ding, das plötzlich einen Namen bekommen hatte und damit Wahrhaftigkeit.
Die Tür wurde geöffnet, und sein Vater trat in Begleitung des Arztes herein, und im gleichen Moment zerplatzte die Vision wie eine Seifenblase - zurück blieb eine tiefe, allumfassende Leere, die sich jedoch bereits mit der vagen Ahnung einer kommenden Furcht zu füllen begann, die zwar noch immer gestalt-, aber nicht mehr namenlos war, und die ihn vielleicht schon jetzt vollends überwältigt hätte, wenn die beiden Männer auch nur einen Augenblick später erschienen wären. Mark fuhr mit einem Ruck hoch und schlug den Aktendeckel mit einer so heftigen Bewegung zu, daß Petri und sein Vater erstaunt mitten im Schritt innehielten und ihn anstarrten. Petri sah einfach nur verwirrt aus, während sein Vater für den Bruchteil einer Sekunde wieder auf die gleiche unerklärliche Weise alarmiert wirkte, die Mark an diesem Tag schon mehrmals an ihm beobachtet hatte. Dann erkannte er wohl die Ursache des Geräusches, und aus Erschrecken wurde für einen noch winzigeren Moment beinahe Entsetzen, dann Zorn. Einen Augenblick später hatte er sich wieder in der Gewalt.