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Zu Marks Überraschung hob Petri die Schultern und sagte: »Warum nicht? Auf eine Minute kommt es nicht an. Aber wirklich nur einen Moment.«

Petri verabscheute Alkohol, das wußte Mark. Wenn er sich in den letzten Jahren nicht radikal geändert hatte, dann konnte es für diesen kurzen Dialog zwischen ihm und seinem Vater eigentlich nur einen Grund geben: Die beiden hatten noch etwas miteinander zu besprechen. Etwas, das wahrscheinlich nicht für Marks Ohren bestimmt war.

Während sein Vater zur Bar ging und zwei Cognacgläser füllte, glitt Marks Blick suchend durch das Zimmer und blieb schließlich wieder an dem Aktendeckel auf dem Schreibtisch hängen, und dann wußte er es.

»Sie haben von Löbach gehört?« fragte er.

In den beiden Cognacgläsern in den Händen seines Vaters fand ein winziges Erdbeben statt, und er wurde genauso blaß, wie Mark es vorhin gewesen sein mußte. Mark hätte Petri gar nicht mehr ansehen müssen, um zu wissen, daß er ins Schwarze getroffen hatte.

»Löbach? Nein. Was ist mit ihm?«

»Er ist tot«, antwortete Mark. »Selbstmord. Hat mein Vater Ihnen noch nichts erzählt?«

Den Ausdruck auf Petris Gesicht als Entsetzen zu bezeichnen, wäre untertrieben gewesen, dachte Mark. Willkommen im Club. Sein Vater und er waren ganz eindeutig nicht die einzigen, die Geheimnisse hatten.

»Selbst... mord?« krächzte Petri.

»Die Polizei geht bisher davon aus«, sagte Marks Vater hastig. Er hatte sich wieder gefangen und war zwar noch blaß, zitterte aber nicht mehr. Doch die Bewegung, mit der er Petri das Cognacglas reichte, war viel zu heftig. Einige Tropfen der goldbraunen Flüssigkeit spritzten auf Petris Jacke. Er bemerkte es nicht einmal.

»Ich wollte es Ihnen noch erzählen, aber nicht so... so undiplomatisch.« Er warf Mark einen ärgerlichen Blick zu. »Doktor Petri und Löbach sind seit dreißig Jahren befreundet, Mark.«

»Oh«, sagte Mark betroffen. »Das... das habe ich nicht gewußt. Es tut mir leid.« Das war ehrlich gemeint. Mark war bestürzt. Er hatte einen Schuß ins Blaue abgeben, aber Petri nicht verletzen wollen.

»Es gibt eine Menge Dinge, die du nicht weißt«, sagte sein Vater kühl. »Vielleicht fragst du mich das nächste Mal erst, ehe . du redest.«

»Selbstmord?« murmelte Petri verstört. Den kurzen Disput zwischen Mark und seinem Vater hatte er gar nicht mitbekommen. »Aber das... das kann doch gar nicht sein.«

»Es ist bisher auch nur eine Theorie«, sagte Marks Vater. »Und ich glaube auch nicht daran. Wahrscheinlich war es ein Unfall.«

Ja, dachte Mark, er hat sich nackt ausgezogen, das Wort AZRAEL an die Wand geschrieben und sich dann vom Balkon gestürzt. Natürlich war es ein Unfall. Was soll es sonst gewesen sein ?Die Worte lagen ihm auf der Zunge, aber dann blickte er wieder in Petris Gesicht und brachte es einfach nicht fertig, sie auszusprechen.

»Es tut mir leid, daß Sie es so erfahren mußten«, sagte sein Vater.

»Das ist... schon in Ordnung«, antwortete Petri. Er fand seine Fassung jetzt wieder, aber das war nur äußerlich. Mark bedauerte seine Worte zutiefst. Er hätte viel darum gegeben, sie zurückzunehmen. Seltsam, wie schwer es war, jemanden zu verletzen, wenn man es wollte - und wie leicht, wenn man es nicht wollte.

»Ich muß jetzt wirklich gehen, fürchte ich.« Petri stellte das Glas auf den Schreibtisch zurück, ohne seinen Inhalt angerührt zu haben. »Wie gesagt: Meine Patienten warten. Ich komme am Abend dann noch einmal vorbei und sehe nach Marianne.«

Er ging überhastet. Marks Vater begleitete ihn bis zur Tür, aber nicht hinunter zum Ausgang, sondern Wartete nur, bis Petris Schritte auf der Treppe verklungen waren, ehe er sich mit einem Ruck wieder zu Mark herumdrehte. Seine Augen blitzten.

»Bravo!« sagte er. »Das war wirklich eine Meisterleistung. Stellst du dir so dein Leben als Erwachsener vor, daß du herumlaufen und Leute vor den Kopf stoßen kannst, wie es dir beliebt?«

»Ich wollte es nicht«, verteidigte sich Mark. »Ich wußte nicht, daß -«

»Du weißt eine ganze Menge nicht«, unterbrach ihn sein Vater. Er hob nicht einmal die Stimme, aber das mußte er auch nicht. Er hatte es stets verstanden, ganz ruhig zu bleiben und dabei trotzdem so verletzend wie eine Rasierklinge zu sein. Er war der einzige Mensch, den Mark kannte, der schreien konnte, ohne dabei laut zu werden.

Dafür war Mark beinahe zum Heulen zumute. Er wußte, was nun kam, und er wußte auch, daß er nicht die geringste Chance hatte. Es war wie gestern nacht mit Prein: Er war mit dem festen Vorsatz hierhergekommen, diesen Kampf auszutragen, aber er machte alles falsch, was er nur falsch machen konnte. Seine Vorbereitungen waren gut, seine Argumente waren gut, aber das Timing war miserabel. Was nutzten die besten Waffen, wenn man sie sich ohne Gegenwehr aus der Hand schlagen ließ?

»Und was war das mit dem Internat?« fuhr sein Vater fort. Er kam näher, und wieder mußte Mark sich beherrschen, um nicht automatisch vor ihm zurückzuweichen. So, wie er schreien konnte, ohne laut zu werden, konnte er sich auch drohend bewegen, ohne irgend etwas wirklich zu tun. Er war weder besonders groß noch außergewöhnlich kräftig; und trotzdem hatte er in diesem Moment etwas von einer Lawine, die sich vielleicht nicht einmal besonders schnell, aber unaufhaltsam auf ihn zubewegte. »Dein Direktor hat mich heute morgen angerufen und mir mitgeteilt, daß du eine schwere Grippe hinter dir hättest. Aber offenbar hat er mich angelogen.«

»Offenbar«, antwortete Mark trotzig. »Er wollte mich wohl in Schutz nehmen.«

»Und du ihn.«

»Und?« fragte Mark herausfordernd. »Vielleicht wollte ich nicht, daß du über ihn herfällst und ihn auf deine übliche Art fertigmachst.«

»Ich mache niemanden fertig«, antwortete sein Vater betont. »Ich schätze es nur nicht, belogen zu werden, das ist alles.«

»Genausowenig wie ich.«

»Das klingt gut.« Sein Vater ging zum Tisch, leerte das Glas, das er für sich eingeschenkt hatte, mit einem Zug und nahm fast in der gleichen Bewegung das des Doktors zur Hand. Ohne Mark anzusehen, fügte er hinzu: »Und wann, bitte, habe ich dich belogen?«

Mark schwieg. Er hätte diese Frage erwarten müssen, wußte aber keine Antwort darauf. Er hatte gerade eine neue Lektion gelernt: Rhetorik allein half auch nicht weiter. Wenn er noch eine Chance haben wollte, aus dieser Runde nicht wieder als eindeutiger Verlierer herauszugehen, mußte er in die Offensive gehen.

»Also?«

»Du hättest es mir sagen können!« sagte Mark mit einer Geste auf den Aktendeckel.

»Löbach?« Sein Vater schnaubte. »Du warst doch hier, als diese beiden freundlichen Polizisten mir ihre Aufwartung gemacht haben, oder? Und wenn ich mich richtig erinnere, dann haben wir hinterher darüber gesprochen. Ziemlich ausführlich sogar.«

»Und das Bild?« fragte Mark.

»Ich wollte dir den Anblick ersparen«, antwortete sein Vater. »So hübsch ist es nicht.«

»Dieses Bild meine ich nicht.« Mark ging zum Tisch, klappte den Aktendeckel auf und fegte das Bild des toten Chemikers mit einer zornigen Handbewegung zur Seite. »Ich meine das hier.«

Sein Vater hatte sich - wenigstens äußerlich - vollkommen in der Gewalt. Er blieb ganz ruhig, während Mark das Foto mit beiden Händen ergriff und es fast triumphierend in die Höhe hob. »Also?«

Er hätte das Bild nicht anfassen sollen. Wahrscheinlich war es Einbildung, ein übriggebliebenes Teil des wieder zerbrochenen Puzzles, das sich irgendwie auf die falsche Seite der Barriere verirrt hatte, aber für einen Moment hatte er das Gefühl, daß sich das dicke Blatt unter seinen Fingern... bewegte. Es schien zu pulsieren, als wäre es kein Stück Papier, sondern ein Kokon, in dem etwas Lebendiges, Fleischiges war, das sich bewegte und hinauswollte.