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»Was bedeutet das?« fragte er mühsam. Sein Herz jagte - aber war es wirklich sein eigener Pulsschlag, den er hörte, oder war es das dumpfe steinerne Schlagen eines Alptraumherzens?

»Ich habe keine Ahnung«, sagte sein Vater. Er klang überzeugend - aber seine Hände verrieten ihn. Als er das Glas hob und einen winzigen Schluck trank, zitterten sie. »Die Polizei hat mich dasselbe gefragt, und ich habe ihnen dasselbe geantwortet wie dir jetzt: Ich habe nicht die geringste Ahnung. Wahrscheinlich war Löbach vollkommen verrückt. Die Polizei hat Drogen in seiner Wohnung gefunden.«

Das Bild bewegte sich jetzt ganz deutlich in seinen Händen. Er konnte es sehen. Wieso sah sein Vater es nicht?

»Du lügst!« sagte er.

Obwohl er nahe daran war, vor Angst laut aufzuschreien, konnte er das Foto nicht loslassen. Es pulsierte immer heftiger in seinen Händen. Es atmete.

»Kaum«, antwortete sein Vater gelassen. »Ich lüge nur, wenn es nötig ist. Und hier ist es nicht nötig. Warum sollte ich dich anlügen? Worüber?«

Etwas kratzte an den Wänden. Von innen. Unsichtbare Klauen aus stahlhartem Horn fuhren scharrend über Putz und Beton. Was geschah mit ihm? Begann es jetzt auch tagsüber? Im Wachen? Verlor er jetzt wirklich den Verstand?

»Was bedeutet dieses Wort?« beharrte er. »Du weißt es.«

»Azrael?« Sein Vater zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck. »Irgend etwas aus der Bibel... Der Name eines Engels, glaube ich. Warum?«

»Weil ich ihn kenne«, antwortete Mark. Es fiel ihm immer schwerer, überhaupt noch zu reden. »Ich habe von ihm geträumt, in der vergangenen Nacht und auch vorhin. Als ich Marianne niedergeschlagen habe, da habe ich mich gegen ihn gewehrt.«

»Gegen einen Engel?« Sein Vater lachte, aber irgendwie klang es eher wie das Bellen eines Hundes. Eines sehr großen Hundes. »Wird das jetzt hier eine Geistergeschichte? Ich meine - fängst du mittlerweile an, Stimmen zu hören?«

Irgendwie gelang es Mark endlich, das Bild fallen zu lassen. Es flatterte auf die Tischplatte hinab und drehte sich dabei so, daß die belichtete Seite oben lag und Mark die dunkelroten Buchstaben weiter lesen konnte.

»Ich weiß nur, daß ich seit zwei Tagen schlechte Träume habe«, antwortete er, »und daß du mir etwas verschweigst. Was bedeutet Azrael?«

»Das habe ich dir gesagt«, antwortete sein Vater. »Und mehr weiß ich nicht. Aber ich beginne mich mittlerweile etwas anderes zu fragen, Mark. Was bedeutet dein Verhalten?«

»Lenk nicht ab«, sagte Mark, aber sein Vater machte nur eine zornige Geste.

»Das tue ich nicht«, sagte er. »Fällt dir eigentlich nicht selbst auf, wie du dich benimmst, seit du nach Hause gekommen bist?«

»Ich benehme mich -«

»- wie ein dummer Junge, der nicht weiß, was er will! Mark, ich habe versucht, dieses Gespräch zu vermeiden, aber ich fürchte, das war ein Fehler. Sprechen wir uns aus. Hier. Jetzt.«

Mark deutete auf das Bild. »Darüber?« Seit er es nicht mehr in der Hand hielt, fühlte er sich besser. Der Schrecken war noch da, aber er klang jetzt rasch ab.

»Nein, verdammt noch mal, nicht darüber!« Sein Vater fegte die Fotografie mit einer zornigen Bewegung vom Tisch. »Über dich! Was zum Teufel ist eigentlich in dich gefahren? Du hast also die Schule hingeschmissen, um nach Hause zu kommen, und ich nehme auch nicht an, daß du wieder dorthin zurückkehren willst? Was hast du jetzt vor?«

»Das hatten wir schon, oder?«

»Ja. Aber noch nicht zu Ende diskutiert.«

»Und das habe ich auch nicht vor«, sagte Mark scharf. »Und wenn du es ganz genau wissen willst, ich bin auch nicht nach Hause gekommen. Ich habe nicht vor, lange hierzubleiben.«

»Selbstverständlich nicht« Sein Vater seufzte erneut und sehr tief. »Du bist nur hierhergekommen, um mir einmal so richtig die Meinung zu sagen, nicht wahr? Und was hast du als nächstes vor? Willst du nach Australien auswandern und Känguruhs züchten?«

»Ich will -«

»Du weißt gar nicht, was du willst«, behauptete sein Vater. Er leerte sein Glas, stellte es mit einer übertrieben heftigen Bewegung auf den Tisch zurück und ließ fast eine Minute verstreichen, ehe er fortfuhr: »Du willst einfach nur protestieren. Dich auflehnen. Aber wogegen? Gegen mich? Bitte. Sag mir, was du zu sagen hast, wenn du glaubst, dich dann wohler zu fühlen. Wer weiß, vielleicht habe ich ja wirklich Fehler gemacht, ohne es zu merken. Ich werde dir zuhören. Also?«

Aber darüber wollte er nicht reden. Nicht jetzt. Er wollte über dieses Bild reden und über seine Träume. Und trotzdem: Jetzt, wo sein Vater das Thema einmal angesprochen hatte, antwortete er beinahe ohne sein Zutun. »Fehler? Ja, so kann man es auch nennen. Du hast mich bestohlen!«

»Interessant«, sagte sein Vater ruhig. »Und was habe ich dir gestohlen?«

»Meine Jugend«, antwortete Mark. »Die letzten sechs Jahre meines Lebens. Und meine Mutter.«

Das saß. Sein Vater zog den Kopf zwischen die Schultern. Er sagte nichts, doch Mark spürte, daß er seine Selbstsicherheit vielleicht zum ersten Male wirklich erschüttert hatte. »Glaubst du das wirklich?« fragte er.

»Ich glaube, daß ich die letzten sechs Jahre nicht in diesem verdammten Internat zubringen wollte«, antwortete Mark. »Ich glaube, daß ich ein ganz normales Elternhaus haben wollte. Vater und Mutter. Freunde. Keinen freundlichen Direktor und Klassenkameraden. Ich wollte hier sein. Bei euch.«

»Du weißt, daß das nicht möglich war«, antwortete sein Vater. »Deine Mutter ist krank, und -«

»- und du hattest keine Zeit«, fiel ihm Mark bitter ins Wort. »Weil du dich ja um die Firma kümmern mußtest, nicht wahr? Deine verdammte Firma. Sie stand immer an erster Stelle.«

»Ja«, sagte sein Vater ungerührt. »Sie hat es immer getan, und sie wird es immer tun. Meine Arbeit ist mein Leben. Deine Mutter hat das von Anfang an gewußt. Und sie hat es akzeptiert.«

»Ja, so ungefähr hat sie es auch ausgedrückt«, sagte Mark böse. »Heute morgen, als ich sie in der Irrenanstalt besucht habe.«

»Krankenhaus«, verbesserte ihn sein Vater. »Nicht Irrenanstalt. Das ist ein Unterschied. Was hast du vor? Willst du mir mit aller Gewalt weh tun? Es ist dir gelungen - falls es dich befriedigt, das zu hören.«

»Du kannst es nennen, wie du willst«, antwortete Mark erregt. »Für mich bist du schuld daran, daß sie dort ist.«

Ein weiterer Tiefschlag, der aber diesmal ohne Wirkung blieb, vielleicht, weil sein Vater ihn erwartet hatte. Er sah ihn nur lange und traurig an, schüttelte den Kopf und schloß dann für einen Moment die Augen, und von der Tür her sagte eine Stimme: »So war es nicht, Mark.«

Mark und sein Vater fuhren zugleich erschrocken herum. Keiner von ihnen hatte bemerkt, daß Petri zurückgekommen war und offensichtlich schon lange genug unter der Tür stand, um einen Großteil ihres Gesprächs mit angehört zu haben.

»Ich habe meine Tasche vergessen«, sagte der Arzt. »Bitte entschuldigen Sie, Herr Sillmann. Ich wollte nicht indiskret sein, aber ich habe Ihr Gespräch mitgehört. Ich finde, Sie sollten es ihm sagen.«

»Bitte, Doktor«, sagte Marks Vater gepreßt. »Das hier ist eine Familienangelegenheit. Nehmen Sie es mir nicht übel - aber das geht Sie wirklich nichts an.«

»Was solltest du mir sagen?« fragte Mark scharf.

»Nichts«, sagte sein Vater.

»Daß es nicht seine Schuld ist«, sagte Petri. »Dein Vater kann nichts für das, was deiner Mutter zugestoßen ist, Mark. Es ist nicht seine Schuld.«

»Seien Sie still, Doktor!« sagte Marks Vater scharf. »Ich verbiete Ihnen, sich in Dinge zu mischen, die Sie nichts angehen!«