»Ja, bitte?« antwortete er.
»Bitte entschuldigen Sie, wenn ich... wenn ich Sie störe, aber ich...« Sie stockte. Ihre Stimme schwankte plötzlich, und Bremer hatte das sichere Gefühl, daß sie nur noch mit letzter Kraft die Tränen zurückhielt. Schließlich atmete sie hörbar ein und setzte neu an: »Haben Sie eine Minute Zeit für mich?«
»Sicher«, sagte Bremer. »Worum geht es denn? Kennen wir uns?«
»Ich... ich bin Angelika«, antwortete die junge Frau mit einem unsicheren Blick in Sendigs Richtung. »Angelika Hansen. Wir haben uns vor zwei Wochen kennengelernt.«
Hansen? Hansens Frau? Bremer erschrak. Natürlich. Der Junge hatte seine Frau am ersten Tag mit aufs Revier gebracht, um ihr seine neuen Kollegen vorzustellen. Aber damals hatte sie anders ausgesehen. Strahlender. Nicht so traurig. Bremer fühlte sich plötzlich sehr unwohl. Er hatte seit der vergangenen Nacht nicht mehr an Hansen gedacht, aber der Anblick seiner Frau erinnerte ihn schmerzlich wieder daran, daß diese ganze wahnsinnige Geschichte schon mehr Opfer gefordert hatte, als er wahrhaben wollte.
»Natürlich«, sagte er. »Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sofort erkannt habe. Aber es ist -«
»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Es macht nichts. Ich... ich will Sie auch gar nicht lange aufhalten. Aber man hat mir gesagt, daß ich Sie hier finde, und -«
»Wer?« mischte sich Sendig ein.
Angelika blickte ihn verängstigt an, und Bremer fügte rasch und in möglichst beruhigendem Ton hinzu: »Das ist mein Kollege, Kommissar Sendig. Sie können ganz offen sprechen.«
»Auf dem Revier«, antwortete Angelika zögernd. »Ihre... Ihre Kollegen dort sagten, daß Sie mit Herrn Sendig unterwegs wären, und daß ich ihn wahrscheinlich hier finde. Und Sie auch.«
Sendig runzelte die Stirn, schwieg aber. Soviel zum Thema Geheimhaltung, dachte Bremer. Er fragte sich, ob es überhaupt irgend jemanden in dieser Stadt gab, der noch nicht wußte, daß Sendig und er zusammenarbeiteten.
»Wie geht es Ihrem Mann?« fragte er. »Ich bin leider noch nicht dazu gekommen, ihn zu besuchen. Er ist doch wieder okay, oder?«
»Ich... ich weiß es nicht«, sagte Angelika. Und damit war ihre Selbstbeherrschung endgültig erschöpft. Plötzlich begann sie zu schluchzen, kämpfte noch einen Moment lang weiter vergeblich gegen die Tränen und warf sich dann an Bremers Brust.
»Ich... ich weiß nicht, wo er ist«, schluchzte sie. »Sie wollen es mir nicht sagen.«
Bremer war vollkommen überrascht. Im ersten Moment verstand er nicht einmal, was Angelika meinte. Er sah Sendig an, erntete aber nur einen verwunderten Blick. Er hielt einige Sekunden still, ehe er die junge Frau an den Schultern ergriff und sehr sanft ein kleines Stück weit von sich fortschob, um ihr ins Gesicht zu sehen.
»Was soll das heißen: Sie wollen es Ihnen nicht sagen?«
Angelika schluchzte noch ein paarmal, dann hatte sie die Tränen wieder unter Kontrolle. Mit einer fahrigen Bewegung klappte sie ihre Handtasche auf und zog ein Papiertaschentuch hervor. Aber sie benutzte es nicht, sondern begann es nur nervös mit den Fingern zu kneten. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Ich wollte nicht -«
»Das ist schon in Ordnung«, unterbrach sie Sendig. »Ich wäre wahrscheinlich genauso aufgeregt an Ihrer Stelle. Was haben Sie damit gemeint, als Sie sagten, Sie wüßten nicht, wie es Ihrem Mann geht?« Er sah kurz zu Bremer hin. »Ihr junger Kollege von letzter Nacht?«
Bremer nickte. »Ja. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, als Sie angekommen sind. Aber er hatte nur einen leichten Schock.«
»Ich war da«, sagte Angelika. Ihre Stimme zitterte noch immer leicht, aber sie weinte jetzt nicht mehr. »Gleich heute morgen, nachdem der Anruf vom Revier kam. Sie sagten, sie hätten ihn in die Unfallklinik gebracht. Aber da... da war er nicht.«
»Was soll das heißen?« fragte Bremer. »Ich habe selbst gesehen, wie man ihn in den Krankenwagen gelegt hat.«
»Zuerst wollten sie mich nicht zu ihm lassen«, fuhr Angelika fort. »Sie sagten, er stünde unter Schock und dürfte nicht gestört werden. Aber ich habe darauf bestanden, ihn zu sehen, und dann... dann ist ein Arzt gekommen.«
»Welcher Arzt?« fragte Sendig. »Wie war sein Name?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Angelika. »Er hat mir seinen Namen genannt, aber ich... ich habe gar nicht richtig hingehört. Ich war so aufgeregt. Ich wollte zu Gerd, aber er hat es nicht zugelassen. Er hat gesagt, er läge in Narkose.«
»Narkose?« Bremer starrte die junge Frau an. »Blödsinn. Ich versichere Ihnen, Dir Mann ist nicht verletzt worden. Er hatte einen gehörigen Schock, aber mehr auch nicht.«
»Und weiter?« fragte Sendig ruhig. Er wirkte mit einem Male sehr gespannt.
»Ich bin gegangen, aber nicht wirklich«, sagte Angelika. »Ich meine, ich habe so getan, als ob ich nachgebe. Aber als der Arzt weg war, bin ich heimlich zurückgegangen und habe gewartet, bis die Stationsschwester einen Moment weg war, um in ihr Buch zu sehen. Ich wollte die Zimmernummer wissen.«
Sendig lächelte, schwieg aber.
»Und?« fragte Bremer.
»Er war nicht da«, antwortete Angelika. »Ich meine: Es gab eine Eintragung, aber das Zimmer war leer. Ich bin hingegangen und habe nachgesehen. Es stand nur ein leeres Bett darin. Mehr nicht. Als ich zurückkam, war der Arzt wieder da. Er war ziemlich wütend und hat gedroht, mich hinauswerfen zu lassen.«
»Sie werden sich in der Zimmernummer getäuscht haben«, vermutete Sendig. »Dieses Krankenhaus ist sehr groß.«
»Nein«, sagte Angelika überzeugt. »Es war das richtige Zimmer. Ich habe nicht lockergelassen, und schließlich hat er mir gesagt, daß man Gerd weggebracht hat.«
»Wohin?« fragte Sendig.
Angelika schüttelte den Kopf. »In ein anderes Krankenhaus. Eine Spezialklinik. Aber sie haben mir nicht gesagt, welche.« Sie knüllte das Papiertaschentuch in ihrer Hand fester zusammen, und in ihren Augen schimmerten jetzt wieder Tränen. »Ich... ich habe den ganzen Morgen herumtelefoniert. Ich habe jedes einzelne Krankenhaus in der Stadt angerufen, aber er ist in keinem davon. Jedenfalls haben sie das gesagt. Was ist mit ihm passiert? Was ist wirklich passiert?«
Bremer mußte plötzlich selbst mit den Tränen kämpfen, als er den Schmerz in ihren Augen sah. Die junge Frau war mit ihren Kräften vollkommen am Ende. Wenn er jemals einen verzweifelten Menschen gesehen hatte, dann sie.
»Nichts«, sagte er hilflos. »Ich schwöre Ihnen, Angelika - ihm ist nichts passiert. Es war eine häßliche Sache. Ein Selbstmord, wissen Sie. Jemand ist vom Balkon gesprungen, und Ihr Mann und ich standen praktisch daneben. Kein schöner Anblick. Aber Gerd ist nicht verletzt worden. Es kann sich nur um einen Irrtum handeln.«
»Aber wieso ist er dann verschwunden? Und wieso sagt mir niemand, wo er ist?«
»Das wissen wir nicht«, antwortete Sendig an Bremers Stelle. »Bitte glauben Sie mir, Frau Hansen - Herr Bremer sagt die Wahrheit. Wahrscheinlich handelt es sich wirklich nur um einen Irrtum. Irgendeine dumme Verwechslung. Ich verspreche Ihnen, daß wir die Sache ganz schnell aufklären.« Er lächelte aufmunternd. »Wissen Sie was? Sie geben meinem Kollegen Ihre Telefonnummer, und wir rufen Sie so schnell wie möglich an. Wir finden schon raus, was da schiefgegangen ist. Wozu sind wir schließlich Polizisten?«
»Ich habe Hansens Nummer«, sagte Bremer. Auch er versuchte zu lächeln, aber es mißlang. Leise und sehr mitfühlend, allerdings wenig überzeugend fuhr er fort: »Keine Sorge. Gehen Sie jetzt nach Hause, und versuchen Sie sich ein bißchen zu beruhigen. Wir melden uns bei Ihnen, sobald wir herausgefunden haben, was da schiefgegangen ist.«
Angelika nickte. Sie versucht tapfer zu sein, dachte Bremer, aber wahrscheinlich war ihr Vorrat an Tapferkeit aufgebraucht. Was um alles in der Welt ging hier vor?
»Danke«, sagte sie. »Und entschuldigen Sie noch einmal, daß ich Sie belästigt habe, aber ich wußte mir keinen anderen Rat.«