»Das ist völlig in Ordnung«, sagte Sendig. »Aber jetzt gehen Sie nach Hause. Sind Sie mit dem Wagen hier? Wenn ja, lassen Sie ihn besser stehen. In Ihrem Zustand sollten Sie nicht Auto fahren.« Er wartete Angelikas Antwort nicht ab, sondern gab dem Mann hinter der Glasscheibe einen Wink.
»Lassen Sie diese junge Frau nach Hause fahren.« Er wartete, bis Angelika gegangen war. Dann sah er Bremer sehr lange und sehr ernst an, und schließlich sagte er: »Ich denke, ich werde doch mehr als nur ein Telefonat führen müssen.«
16. Kapitel
Petri nahm die beiden Gläser, aus denen er und sein Vater zuvor getrunken hatten, und trug sie mit übertrieben langsamen Bewegungen zur Bar. Ebenso langsam und umständlich füllte er das seines Vaters wieder auf, schenkte ein zweites ein und reichte es Mark.
»Danke«, sagte Mark. »Aber ich trinke keinen Alkohol.«
»Blödsinn«, erwiderte Petri. »Du bist alt genug, und es redet sich besser so. Außerdem ist es kein Alkohol, sondern Medizin, und die verordne ich dir jetzt.«
Mark griff widerwillig nach dem Glas, hielt es aber nur in der Hand. Er hatte nicht vor, zu trinken, aber Petris theatralisches Gehabe beunruhigte ihn noch mehr. Es hatte keinen anderen Sinn als den, Zeit zu gewinnen. Warum?
»Wozu? Glauben Sie, daß ich es nötig habe?«
»Doktor, bitte«, sagte Marks Vater. »Ich glaube nicht -«
»Ich«, unterbrach ihn Petri mit einer Schärfe und Bestimmtheit, die Mark niemals an ihm vermutet hätte, »glaube, daß Sie schon viel zu lange gewartet haben. Wenn Sie schon nicht auf meinen freundschaftlichen Rat hören wollen, dann hören Sie auf meine Erfahrung als Arzt. Es gibt Dinge, die müssen sein, auch wenn sie weh tun. Sie werden nicht besser, wenn man nur lange genug wartet.«
Er wandte sich wieder an Mark. »Du haßt deinen Vater, nicht wahr? Weil du glaubst, daß er deine Mutter auf dem Gewissen hat.«
»War es denn nicht so?« fragte Mark.
»Nein«, sagte Petri. »Er kann nichts dafür. Er am allerwenigsten.«
»Ach«, sagte Mark. »Wieso?«
Petri zögerte. Man mußte nicht unbedingt telepathisch begabt sein, um zu erkennen, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen. »Es ist... nicht seine Schuld«, sagte er zum wiederholten Mal. »Er hielt es nur für besser, dich in dem Glauben zu belassen, daß es so ist.«
»Wie bitte?« fragte Mark fassungslos. Er starrte seinen Vater an, aber der wich seinem Blick aus.
»Es war besser«, fuhr Petri fort. »Wenigstens für eine Weile. Aber ich denke, daß es jetzt an der Zeit ist, dir die Wahrheit zu erzählen.«
»Besser für wen?« fragte Mark. »Was soll das alles überhaupt?«
»Besser für dich«, sagte Petri. »Weißt du - manchmal ist es leichter, einen Schmerz zu ertragen, wenn jemand da ist, dem man die Schuld daran geben kann.«
»Und jetzt -«
»Jetzt«, unterbrach ihn Petri betont, »bist du alt genug, um die Wahrheit zu erfahren. Es ist schade, daß es so geschehen muß, aber wahrscheinlich geht es nicht anders.«
»Was muß ich erfahren?« fragte Mark. »Eine neue Lüge? Ich will sie nicht hören.«
Es war nicht Petri, der antwortete, sondern sein Vater. Er sah Mark noch immer nicht an, und er sprach sehr leise, mit einer Stimme, die Mark noch nie zuvor von ihm gehört hatte. Plötzlich klang er wie ein alter, schwacher Mann. »Die Wahrheit, Mark. Aber sie wird dir nicht gefallen.«
»Das glaube ich kaum«, antwortete Mark. »Ich glaube nicht, daß mir irgend etwas weniger gefällt als das, was ich bisher erlebt habe.«
Petri und sein Vater tauschten einen langen Blick, und diesmal war es Petri, der das Gespräch fortsetzte.
»Du warst zwölf Jahre alt, als du ins Internat gekommen bist, nicht wahr?« fragte er.
»Ja«, antwortete Mark. »Was soll diese Frage?«
»Und was war vorher?«
»Vorher?« Mark blickte verwirrt von seinem Vater zu Petri und wieder zurück. »Was soll das?«
»Ich frage dich, was vor deiner Zeit im Internat war«, beharrte Doktor Petri. »Du wolltest eine ganz normale Jugend - das hast du jedenfalls gerade selbst gesagt. Erzähl mir etwas davon. Von der Zeit vor deinem zwölften Geburtstag. Bevor du ins Internat gekommen bist.«
»Aber das ist doch lächerlich!« sagte Mark.
»Erzähl mir davon«, verlangte Petri. »Irgend etwas. Es ist gleich, was.«
»Aber was soll denn das?« schnappte Mark. »Das ist... idiotisch!«
»Vielleicht«, sagte Petri. »Möglicherweise bin ich nur ein alter Idiot, wer weiß? Trotzdem - erzähl mir irgend etwas. Du wirst dich doch erinnern. Du hast bestimmt Freunde gehabt, ein Lieblingsspielzeug, irgendeine Serie im Fernsehen, die du besonders gemocht hast... irgend etwas.«
»Was soll ich schon erzählen?« fragte Mark verwirrt. »Ich... ich war hier.« Plötzlich raste sein Herz wieder, und er schloß die Hände so fest um den Cognacschwenker, daß das Glas knackte, nur damit Petri und sein Vater nicht sahen, wie sie zitterten. Er begriff noch immer nicht, worauf Petri hinauswollte - aber das änderte nichts daran, daß ihn die Fragen des Arztes regelrecht in Panik versetzten. Stockend fuhr er fort: »Ich habe hier gelebt. Mit... mit meinem Vater und meiner Mutter und... und Marianne. Da gibt es nichts Besonderes zu erzählen.«
»In zwölf Jahren? Es ist nichts passiert, woran du dich erinnerst? Gar nichts? Das kann nicht dein Ernst sein.«
Mark starrte den Arzt an. Er wollte lachen, einfach hysterisch losschreien oder ihn anbrüllen, aber er konnte nichts von alledem. Seine Gedanken überschlugen sich schier. Das war lächerlich. Grotesk. Wieso sollte er sich nicht an seine Jugend erinnern können? Er hatte hier gelebt, mit seinen Eltern und Marianne, und er kannte jeden Quadratzentimeter dieses Hauses, jedes einzelne Möbelstück, jedes Buch auf den Regalen. Er erinnerte sich an sein Leben hier, die Schule, an Mariannes Essen und die Fernsehabende mit seiner Mutter, die Weihnachtsfeiern und seine Geburtstage.
Und sonst an nichts.
Es war nicht etwa so, daß seine Erinnerungen erst mit seinem Umzug ins Internat begannen und davor ein schwarzes Nichts gewesen wäre. Es war alles da - aber die Details fehlten. Es war, als wäre sein ganzes Leben in einem Buch niedergeschrieben worden, das er nur durchgeblättert, nicht aber wirklich gelesen hatte, so daß er zwar die Handlung, nicht aber das eigentliche Leben zwischen den Zeilen mitbekommen hatte. Er wollte sich erinnern, mit aller Gewalt.
Aber er konnte es nicht.
Da war nichts, woran er sich erinnern konnte.
»Was... was bedeutet das?« fragte er stockend.
Petri atmete hörbar ein. »Weißt du, was man unter dem Wort Amnesie versteht? Sicher, du weißt es. Jedermann weiß so etwas heute.«
»Gedächtnisverlust«, antwortete Mark überflüssigerweise. Er versuchte zu lachen. »Wollen Sie mir gerade weismachen, daß ich unter einer Art Amnesie leide.«
»Einer ganz speziellen Art, ja«, bestätigte Petri. »Es gibt die verschiedensten Ursachen für einen Gedächtnisverlust, und er ist nicht immer total. Meistens verschwindet er nach ein paar Stunden oder allerhöchstens Tagen von selbst wieder. Aber manchmal dauert es auch Jahre, und manchmal kehren die Erinnerungen auch nie vollständig zurück.«
»Und manchmal hilft jemand nach«, fügte sein Vater ganz leise hinzu.
»Wie... bitte?« fragte Mark.
Er starrte abwechselnd seinen Vater und Petri an, bekam aber von keinem der beiden eine Antwort. Sein Vater blickte weiter starr ins Leere, während Petri jetzt noch betroffener aussah, irgendwie aber zugleich auch entschlossener, auf eine grimmige, ungute Art.
»Was soll das heißen?« fragte Mark.