Tief in ihm begann eine furchtbare Ahnung aufzukeimen - nein, keine Ahnung. Es war Wissen, klares, zweifelsfreies Wissen, das irgendwo in ihm vergraben war, unendlich tief und so sorgsam eingesperrt, daß er es selbst jetzt noch nicht wirklich erkennen konnte. Aber es war da. Eingesperrt, aber da. Nur war er mit einem Male gar nicht mehr sicher, ob er es wirklich befreien wollte. Was hatte Petri gesagt? Die Wahrheit wird dir nicht gefallen?
»Dein Vater sagt die Wahrheit«, sagte Petri schließlich. »Manchmal hilft jemand nach, um zu verhindern, daß die Amnesie zu schnell nachläßt.«
»Jemand?«
»Ich«, gestand Petri. »Ich war damals der Arzt, der die Diagnose gestellt hatte. Und ich habe auch dafür gesorgt, daß du dich nicht erinnerst, jedenfalls nicht gleich.« Er hob die Hand, als Mark widersprechen wollte. »Ich weiß, was du sagen willst, aber du irrst dich. Es gibt durchaus Mittel und Wege, ganz bestimmte Erinnerungen aus dem Gedächtnis eines Menschen zu löschen. Ziemlich einfache sogar. Man spricht nur nicht gerne darüber.«
»Erinnerungen woran?« bohrte Mark.
»An das, was damals geschehen ist«, antwortete sein Vater. Er atmete hörbar ein, setzte das leere Glas an die Lippen und senkte es wieder. Bevor er weitersprach, ging er zur Bar und füllte es erneut. Während der ganzen Zeit, und auch danach noch, sah er Mark nicht an.
»In einem Punkt hattest du recht, Mark«, sagte er leise. »Ich habe dich belogen. Sowohl was deine Mutter als auch was Löbach angeht. Und den Namen.«
»Welchen Namen?«
»Azrael«, sagte sein Vater. »Ich weiß, was er bedeutet. Und du weißt es auch.« Er trank - nicht sehr viel -, drehte das Glas einige Sekunden lang mit kleinen, nervösen Bewegungen in den Fingern und wandte sich schließlich mit einem Ruck um. Jetzt sah er Mark doch an.
»Erzähl mir von deinem Traum«, verlangte er.
»Da gibt es nicht viel zu erzählen«, antwortete Mark. »Ein Alptraum. Wirres Zeug eben.«
Weder Petri noch sein Vater antworteten, aber allein ihr Schweigen machte Mark klar, wie wenig überzeugend seine Behauptung klang, nicht nach allem, was passiert war. Schließlich zuckte er mit den Schultern und begann mit leiser, schwankender Stimme zu erzählen. Er hatte sich vorgenommen, ganz ruhig zu bleiben, und während der ersten zwei oder drei Minuten gelang es ihm sogar. Aber nicht viel länger. Indem er über den Traum sprach, gab er ihm neue Substanz. Diesmal hörte er keinen Herzschlag oder sah Schatten und greifende Schemen. Trotzdem war der Schrecken da, allerdings auf eine völlig andere, neue Art. Es war ein Schrecken, der irgend etwas mit dem verborgenen Wissen in ihm zu tun hatte, vielleicht der Schlüssel zu dem Kerker war, gegen dessen Wände es immer nachhaltiger hämmerte. Als er fertig war, hatte er kaum noch die Kraft, zu reden. Er zitterte am ganzen Leib.
»Das ist alles«, schloß er. »Wie gesagt - nur ein Alptraum.«
»Nein«, sagte sein Vater. »Das ist es nicht. Es gab diesen Raum, den du gesehen hast, Mark. Du warst da. Und die anderen auch.«
Das Glas zerbrach in Marks Händen. Die Scherben schnitten tief in sein Fleisch, aber er spürte weder den Schmerz noch das Blut, das plötzlich warm über seine Handgelenke lief und zu Boden tropfte. Er hätte nicht erschrecken dürfen, aber er tat es. Erst nach ein paar Sekunden machte er sich klar, daß er nicht über das erschrak, was sein Vater sagte - im Grunde hatte er die ganze Zeit über gewußt, daß sein Traum mehr als ein Traum war -, sondern weil diese Worte seine letzte Hoffnung zunichte machten, die Hoffnung nämlich, daß es doch nur eine Vision war. Petri bückte sich nach seiner Arzttasche, trat zu Mark, griff nach seiner Hand und begann mit geübten Bewegungen die beiden Schnittwunden zu versorgen, alles, ohne ein einziges Wort zu sagen.
»Welche anderen?« fragte Mark nach einiger Zeit.
»Claudia, Beate, Fred, Jennifer ...« Sein Vater machte eine vage Geste. »Ihre Namen spielen keine Rolle. Wenn du dich jetzt noch nicht an sie erinnerst, macht es nichts. Wer sie waren, ist gleich.«
Waren? Also stimmte auch dieses Detail - all diese bleichen Gestalten aus seinem Traum waren tot. Er war der einzige, der davongekommen war, und sie waren nun hier, um ihn zu holen.
»Und Azrael?«
»Nein. Azrael ist... kein Mensch. Vielleicht sollte ich besser sagen: kein Jemand. Sondern ein Etwas. Eine Droge, genauer gesagt.«
»Eine Droge?!« Mark fuhr zusammen, als Petri etwas mit seiner Hand tat, das ihm weitaus mehr Schmerz bereitete als die Schnitte. Er sah nicht einmal hin. »Willst du etwa behaupten, daß ich drogensüchtig war?«
»Ja«, antwortete sein Vater. »Du und die anderen und...« Er stockte einen winzigen Moment, in dem er Petri einen aufmerksamen und zugleich entschuldigenden Blick zuwarf. »Und Löbach.«
»Löbach?«
»Ja«, bestätigte sein Vater. »Ich habe es nicht gewußt - damals jedenfalls. Nicht, bis es zu spät war. Später hat er mir die ganze Geschichte gebeichtet, aber da war das Unglück bereits geschehen.«
»Welches Unglück?« fragte Mark. »Wovon zum Teufel sprichst du überhaupt? Was ist damals passiert?!«
»Ich muß ein wenig ausholen«, antwortete sein Vater. »Bitte hör mir einfach zu, Mark. Es... es fällt mir nicht leicht, die Geschichte zu erzählen. Nicht nach all der Zeit und vor allem nicht dir. Wenn du Fragen hast, beantworte ich sie dir hinterher, aber jetzt hör einfach zu, okay?«
»Okay«, murmelte Mark.
»Es begann neunzehnhundert ...« Sein Vater dachte einen Moment konzentriert nach und zuckte denn mit den Achseln. »... Sechsundsechzig oder siebenundsechzig, so genau weiß ich das selbst nicht mehr. Es spielt auch keine Rolle. Auf dem Höhepunkt der Drogenbewegung jedenfalls. LSD war gerade groß in Mode, Haschisch etwas für Weichlinge, und Chemiestudenten bastelten an jeder Ecke an neuen Halluzinogenen.«
»Designerdrogen gibt es heute auch an jeder Ecke«, sagte Mark.
»Sicher. Aber für uns war es etwas Besonderes. Etwas Neues. Etwas Aufregendes, verstehst du? Natürlich erkannten wir auch die Gefahren, die davon ausgingen, aber wir spürten auch die Faszination. Weißt du, Mark, für euch heute sind Drogen etwas ganz Normales, aber damals war es... eine neue Welt. Der erste Schritt in eine völlig neue Dimension. Ein neues, aufregendes Land, das es zu entdecken und zu erforschen galt. Und vergiß nicht, daß wir auch beruflich damit zu tun hatten.«
»Wir?«
»Löbach und ich«, antwortete sein Vater. »Er war schon damals mein Chefchemiker. Und ein guter Freund. Wir haben ein bißchen herumexperimentiert - dann und wann LSD eingeworfen oder ein bißchen mit neuem Zeug rumexperimentiert.« Er lächelte, als er Marks ungläubige Blicke bemerkte. »Ich war auch einmal jung, weißt du. Aber weiter. Wie gesagt, wir haben es dann und wann getan, und wir haben ziemlich rasch auch wieder damit aufgehört. Ich jedenfalls.«
»Löbach nicht?«
»Damals dachte ich es«, antwortete sein Vater. »Die Wahrheit habe ich erst sehr viel später erfahren. Aber wir hatten nicht nur privat mit Drogen zu tun. Immerhin - ich besitze eine pharmazeutische Fabrik, und Drogen waren schon damals mein täglich Brot, sozusagen.«
»Und außerdem ist da eine Menge Geld drin«, sagte Mark böse.
»Eine gewaltige Menge Geld sogar«, bestätigte sein Vater ungerührt. »Und? Was spricht dagegen? Ich habe niemals versucht, auf illegale Weise damit Geld zu verdienen. Ganz im Gegenteil - Löbach und ich haben jahrelang an einem Projekt gearbeitet, das das Drogenproblem vielleicht mit einem Schlag erledigt hätte. Du kennst die Versuche, die heutzutage mit Methadon durchgeführt werden.«
»Eine Ersatzdroge, ja.«
»Ein alter Hut«, sagte sein Vater heftig. »Löbach und ich hatten die Idee schon vor beinahe dreißig Jahren. Nur hieß sie nicht Methadon, sondern AZRAEL. Amphetamin Z 7 Reciprocal Ascarin Ethylmescalin Lophophinderivat.«