Plötzlich hatte er Angst. Eine Angst, die in Bruchteilen von Sekunden beinahe zur Panik wurde und ihn hätte aufschreien lassen, hätte er nur die Kraft dafür gehabt. Hansen war kein Feigling; eigentlich hatte er das Gefühl der Angst nur sehr selten kennengelernt und niemals in dieser Ausprägung. Aber natürlich gab es auch in seinem Leben etwas, das er fürchtete, vor dem er mehr Angst hatte als vor allem anderen - wie bei jedem Menschen. Bei Hansen war es die Angst, wahnsinnig zu werden.
Sie war nicht unbegründet. Er selbst hatte niemals an seiner geistigen Gesundheit zweifeln müssen, aber er hatte einen Bruder gehabt - er war vier Jahre älter gewesen als er und im vergangenen Jahr (endlich) gestorben -, der geistig zurückgeblieben war. Hansen war zusammen mit einem Bruder aufgewachsen, der stets größer und sehr viel kräftiger als er gewesen war, für eine Weile älter, für eine kurze Weile ebenso alt wie er und für lange, qualvolle Jahre jünger; ein fünfjähriges Kind im Körper eines Mannes, das niemals richtig gelernt hatte zu denken, sich zu artikulieren und sich zu bewegen, und ein durch und durch böses Kind noch dazu. Hansen hatte notgedrungen viel über geistige Behinderungen gelernt, und ihm war nicht verborgen geblieben, daß die meisten Schwachsinnigen erstaunlich friedfertig waren; wenigstens die, die man frei herumlaufen ließ. Sein Bruder nicht. Er war nicht direkt gefährlich; nicht so, daß es einen Grund gegeben hätte, ihn einzusperren oder unter irgendeine besondere Aufsicht zu stellen, aber er machte Hansen und seiner ganzen Familie das Leben zur Hölle. Die vierundzwanzig Jahre, die er alt geworden war, hatten das Leben seiner Eltern zerstört und das seines jüngeren Bruders zu einer Qual gemacht. Als er schließlich gestorben war, hatte die ganze Familie aufgeatmet - und in Hansen war die tiefverwurzelte, unauslöschliche Angst zurückgeblieben, eines Tages genauso zu werden.
Vielleicht war es mehr als bloße Furcht gewesen. Vielleicht eine Ahnung, vielleicht hatte er instinktiv gespürt, daß das gleiche, grausame Etwas, das den Geist seines Bruders zerstört hatte, auch schon in ihm war: ein unsichtbares Krebsgeschwür, das lautlos und im verborgenen wucherte und auf den Moment wartete, auszubrechen.
War es jetzt soweit? War das der Grund, weshalb er hier war? Weshalb dieses Krankenhaus keinem Krankenhaus ähnelte, das er je gesehen hatte, weil es kein Kranken-, sondern ein Irrenhaus war?
Hansen spürte, daß er dabei war, sich selbst in eine Furcht hineinzusteigern, der er vielleicht nicht mehr würde Herr werden können, und zwang sich mit einer gewaltigen Anstrengung, den Gedankengang abzubrechen. Er nahm die Hände herunter, hob den Kopf und öffnete mit einem Ruck die Augen. Wie er erwartet hatte, wurde ihm schwindelig, aber nicht so schlimm, wie er gefürchtet hatte. Für einen Moment schwankte das kleine, fensterlose Zimmer vor seinen Augen auf und ab, aber er brachte den Effekt mit einer bewußten Anstrengung zum Erliegen. Er wußte nicht, wo er war, aber eines konnte er mit großer Sicherheit sagen: Dies war keine Irrenanstalt. Die berühmte Gummizelle - deren Wände übrigens in den seltensten Fällen tatsächlich aus Gummi bestanden - sah anders aus. Sie hatte zum Beispiel keine Tresortür, und es gab auch kein Videoauge in der Wand, das jede Bewegung ihres Insassen mißtrauisch überwachte. Wo also war er?
Vielleicht lag die Antwort auf diese Fragen in den Ereignissen der vergangenen Nacht. Hansen hatte immer noch Schwierigkeiten, sich zu erinnern, aber nun versuchte er das Problem mit Logik anzugehen. Eine der ersten Lektionen, die er während seiner Ausbildung zum Polizeibeamten gelernt hatte, beinhaltete, daß es zwar richtig war, ein Problem in seiner Gesamtheit zu betrachten, der genau entgegengesetzte Weg aber ebenso zum Erfolg führen konnte: den Blick auf die Details zu lenken und jedes einzelne sorgsam zu prüfen. Er war mit Bremer auf Streife gewesen, und ihre Schicht war schon beinahe vorüber. Er erinnerte sich, sehr müde gewesen zu sein und alles andere als begeistert, als der Einsatzbefehl über Funk kam. Es ging um einen...
An diesem Punkt setzten seine Erinnerungen aus. Er... glaubte, daß es um einen Selbstmörder gegangen war, war aber nicht sicher. Irgend etwas war danach geschehen. In seinem Kopf waren ein paar zusammenhanglose Bilder: ein Hochhaus, Menschen, die zusammengelaufen waren und die Köpfe in den Nacken legten, eine winzige weiße Gestalt, die mit weit ausgebreiteten Armen wie ein bleicher Vogel ohne Schwingen hoch durch die Luft flog, dann ein Schrei und ein dumpfer Aufprall; irgend etwas hatte ihn getroffen, danach kam wieder eine Lücke, die mit vagen, aber zusammenhanglosen Bildern und Empfindungen gefüllt war. Dann der Krankenwagen. Er hatte nicht gewollt, daß man ihn hineinlegte, sich zugleich aber auch nicht wirklich dagegen wehren wollen. Wieder eine Lücke: ein Blackout, das diesmal seine Erinnerungen betraf und total war. Das nächste, woran er sich erinnerte - daran aber sehr klar -, war das Krankenhaus gewesen, in dem er das erste Mal aufgewacht war. Anders als dies ein ganz normales Krankenhaus mit einem ganz normalen Bett und ganz normalem Personal. Eine Schwester war gekommen und hatte ihm zu trinken gebracht, und danach...
Ja, danach hatte er verlangt, mit seiner Frau telefonieren zu dürfen. Er kannte die Vorschriften. Sicherlich hatte man Angelika längst darüber informiert, daß er einen Unfall (Unfall?) gehabt hatte und ins Krankenhaus gebracht worden war, und sie würde sich Sorgen machen. Er mußte anrufen und sie beruhigen. Aber statt eines Telefons war ein Arzt in seinem Zimmer erschienen, und statt ihn zu entlassen, hatte er ihm mitgeteilt, daß noch einige Untersuchungen nötig seien. Er hatte nicht protestiert. Eine weitere Lektion, die er schon sehr früh gelernt hatte, war, daß es keinen Sinn hatte, sich mit Ärzten zu streiten. Sie hatten meistens recht, und wenn schon nicht das, waren sie doch fast immer in der stärkeren Position. Er hatte nicht einmal gefragt, welche Untersuchungen und warum, sondern sich in sein Schicksal gefügt und nur darum gebeten, daß man seine Frau benachrichtigte und ihr mitteilte, wo er war und daß ihm nichts Ernstes fehlte. Danach hatte der Arzt ihm eine Spritze gegeben, und er war eingeschlafen.
Das Mittel hatte nicht richtig gewirkt, oder etwas in ihm hatte sich gegen seine Wirkung gewehrt, denn er war schon nach kurzem wieder aufgewacht und hatte sich in einem Dämmerzustand zwischen Schlafen und Wachen befunden. Sein Bewußtsein war ständig von der einen Seite der Grenze auf die andere hinüber und wieder zurück geglitten, so daß er in Bruchstücken mitbekommen hatte, daß man ihn aus dem Zimmer und einige Augenblicke später in einen Krankenwagen brachte, der ohne Blaulicht und Sirene, aber trotzdem sehr schnell losgefahren war. Da hatte er das erste Mal Angst bekommen. Er war nicht verletzt, er hatte keine Schmerzen, Und mit Ausnahme seiner Benommenheit - die mit großer Wahrscheinlichkeit an der Spritze lag, die er bekommen hatte - fühlte er sich gut. Aber warum brachte man ihn dann weg? Und wohin?
Seitdem war er hier, in diesem unheimlichen Zimmer. Ein paarmal waren Männer in weißen Hosen und kurzärmeligen weißen Jacken gekommen, um nach ihm zu sehen oder eine Nadel in seinen Arm zu stechen, und das war alles, was er wußte.
Hansen richtete sich weiter auf und atmete ein paarmal bewußt tief ein und aus, um das leise Gefühl der Übelkeit zu bekämpfen, das sich in seinem Magen ausgebreitet hatte. Sein Blick suchte das starre Kameraauge über der Tür und fixierte es lange genug, damit er sicher war, daß, wer immer den dazugehörigen Monitor auf der anderen Seite beobachtete, es auch bemerkt hatte.
»Ich will mit einem Arzt sprechen«, sagte er, nicht sehr laut, aber mit schon fast überdeutlicher Betonung und allem Nachdruck, den er in die Worte legen konnte. »Hören Sie? Ich verlange, sofort mit jemandem zu reden, der mir sagt, was hier los ist.«
Natürlich bekam er keine Antwort. Er konnte nirgendwo einen Lautsprecher entdecken, aber wahrscheinlich hätte er auch keine bekommen, hätte es einen gegeben. Es spielte keine Rolle. Seine Worte waren mit Sicherheit gehört worden. Wer immer sich solche Mühe mit ihm gab, würde die Videokamera dort über der Tür nicht ausgeschaltet lassen. Und bei allen Ängsten, die ihn peinigten, hatte er doch immer noch Vertrauen in die Wissenschaft und die Ärzte. Er war zornig, daß ihm niemand etwas gesagt hatte, daß man ihm Spritzen gab, ohne ihm zu erklären, warum, und ihm ein einfaches Telefongespräch mit seiner Frau verweigerte, aber er unterstellte ihnen - wer immer sie waren - trotzdem noch immer die besten Absichten. Beschweren konnte er sich später, und das würde er auch hin, aber jetzt galt es erst einmal, sich über seine Situation Klarheit zu verschaffen.