»Aber keine Angst, Gerd«, fuhr Artner fort. »Ich bin nicht gekommen, um Ihnen schonend beizubringen, daß Sie verrückt geworden sind. Das sind Sie nicht.« Er lachte. »Jedenfalls nicht verrückter als die meisten dort draußen, die sich für normal halten.«
»Was... was soll das?« krächzte Hansen. »Ich verstehe nicht, was...«
»Na ja, das können Sie vermutlich auch nicht«, unterbrach ihn Artner. »Schließlich bin ich ja hier, um Ihnen alles zu erklären. Das ist meine Aufgabe, wissen Sie? Erklären und beruhigen - auch wenn es manchmal gar nichts zu erklären gibt und schon gar nichts zu beruhigen. Ich meine, sehen Sie mich an, ich bin der Leiter dieser Klinik. Das alles hier gehört mir. Zwanzig Ärzte, an die hundert Pfleger und Schwestern und Technik im Wert von etlichen zig Millionen - und was habe ich davon? Nichts.«
»Bitte, Dr. Artner«, sagte Hansen mit letzter Kraft. »Was immer Sie mir sagen wollen, sagen Sie es. Erklären Sie mir, was mit mir geschieht.«
»Aber das versuche ich ja gerade«, antwortete Artner in einem Ton resignierender Geduld. »Es hat überhaupt keinen Sinn, sich gegen das Schicksal aufzulehnen, wissen Sie? Früher habe ich das einmal geglaubt, aber es stimmt nicht. Wir können tun, was wir wollen, am Ende ist es stärker.« Er zog einen Schmollmund. »Schauen Sie mich an! Dieser ganze Laden hier hört auf mein Kommando, und was habe ich davon? Ich bin tot!«
Hansen riß ungläubig die Augen auf. »Wie?«
»Ja, ja«, sagte Artner. »Ich bin tot. Sehen Sie!« Er griff in die rechte Tasche seines Kittels, zog ein Skalpell heraus und führte es mit einer langsamen, sehr präzisen Bewegung über seine linke Wange. Das Fleisch klaffte auf und fiel herunter wie ein Stück losgerissener Tapete, und darunter kamen der blanke Knochen und rote Muskel- und Sehnenstränge zum Vorschein. Als er weitersprach, konnte Hansen sehen, wie sich die Zunge in seinem Mund bewegte wie ein kleiner fleischiger Wurm, der vergebens gegen die Stäbe eines Elfenbeinkäfigs anrannte.
»Hoppla«, sagte Artner. »Das war vielleicht etwas übertrieben. Aber so ist das: Man wird leicht unachtsam, wenn man keine Schmerzen mehr fürchten muß.« Er entledigte sich des Skalpells, indem er es sich wuchtig in den linken Unterarm stieß, griff mit der freigewordenen Hand nach seinem Gesicht und klappte den Fleischlappen, der seine Wange gewesen war, wieder nach oben.
»Haben Sie Angst vor Schmerzen, Gerd?« fragte er.
Hansen schrie. Voller Panik wich er vor Artner zurück, stürzte nach hinten und begann rücklings über das Bett vor ihm davonzukriechen.
»Ich will Ihnen keine Angst machen«, fuhr Artner im Plauderton fort. »Ich frage nur, weil Sie wahrscheinlich eine gewaltige Menge Schmerzen ertragen werden müssen, dort, wo Sie hingehen. Und für ziemlich lange, fürchte ich.« Er lachte leise. »Oh ja, sehr lange. Wie lang ist die Ewigkeit?«
Hansen kreischte weiter. Der Schrei wurde von den gepolsterten Wänden zurückgeworfen und hallte schmerzhaft laut in seinen Ohren, und in ihm erwiderte eine lautlose Stimme den Schrei und fegte auch noch den letzten Rest von Beherrschung davon. Hinter seiner Stirn begann sich ein Druck aufzubauen, der binnen Sekunden die Grenzen des Erträglichen erreichte und überstieg und immer noch weiter und weiter wuchs, bis er das Gefühl hatte, explodieren zu müssen. Seine Furcht erreichte eine Intensität, die wirkliche körperliche Schmerzen freisetzte, aber diesmal war dieser Schmerz kein Freund, sondern ein Verbündeter der Panik, der mit scharfen Krallen an der immer dünner werdenden Barriere riß, die seinen Verstand noch von den Abgründen des Wahnsinns trennte. Und Artner kam näher. Er hatte das Bett erreicht und ging einfach hindurch - nicht wie ein Geist oder ein Trugbild, das einfach durch feste Materie hindurchglitt, sondern mit langsameren, mühevollen Schritten, wie ein Mann, der in knietiefem zähem Schlamm watete.
»Ich habe eine Überraschung für dich, Gerd«, sagte er. »Aber ich furchte, sie wird dir nicht gefallen.«
Seine Stimme. Etwas stimmte nicht mit seiner Stimme. Es war plötzlich nicht mehr die des Arztes. Das hieß - nicht eigentlich seine Stimme hatte sich verändert, sondern vielmehr seine Art, zu reden. Sie war... schleppender geworden. Monotoner. Kindlicher?
Die Tür zu Hansens Zelle wurde mit einem Knall aufgerissen, und zwei muskulöse Männer in weißen Pflegeruniformen stürmten herein, dicht gefolgt von einem dritten, etwas älteren Mann, dem man, ganz wie Artner zuvor, den Arzt ansah. Offenbar hatte die Videokamera doch ihren Dienst getan, und sie waren gekommen, um ihn zu retten. Sie würden Artner überwältigen und -
Sie ignorierten Artner.
Hansen schrie weiter aus Leibeskräften und schlug und trat mit Armen und Beinen um sich, aber er hatte keine Chance gegen die beiden Pfleger. Mit routinierten Bewegungen ergriffen sie ihn und rangen seinen Widerstand scheinbar mühelos nieder. Hansen schrie weiter, bäumte sich mit verzweifelter Kraft auf und brüllte, und Artner stand die ganze Zeit da, bis zu den Knien in seinem Bett versunken und lächelnd, und irgend etwas geschah mit seinem Gesicht. Es veränderte sich, ohne sich wirklich zu verändern. Etwas Bekanntes war mit einem Male darin, etwas auf eine furchtbare Weise Vertrautes, das nicht sein konnte, das einfach nicht sein durfte, denn es war unmöglich, absolut und vollkommen unmöglich.
»Beruhigen Sie sich, Hansen!« sagte der neu hinzugekommene Arzt. Er stand direkt hinter Artner auf der anderen Seite des Bettes, so daß Hansen sein Gesicht nur zum Teil sehen konnte. Er sah erschrocken aus und sehr besorgt - aber er sah Artner nicht. Sein Blick war fest auf Hansen gerichtet, obwohl er ihn doch sehen mußte. Er stand unmittelbar vor ihm!
»Ja, ja, du solltest auf meinen armen lebenden Kollegen hören«, sagte Artner fröhlich. »Beruhige dich. Es wäre wirklich klüger.« Er lachte meckernd. »Um dich aufzuregen, hast du noch viel Zeit. Viel, viel, viel Zeit.«
Etwas in Hansen zerbrach. Der Druck hinter seiner Stirn überstieg die Grenzen des Vorstellbaren, und es war wirklich wie eine kleine Explosion - er konnte fühlen, wie irgendein Widerstand in ihm nachgab, die Mauern einstürzten, die seinen Verstand bisher trotz allem noch irgendwie geschützt hatten. Er heulte auf, mobilisierte noch einmal alle Kräfte und schaffte es dann, seinen rechten Arm loszureißen. Der Pfleger auf der entsprechenden Seite des Bettes fluchte, versuchte seine Hand wieder zu ergreifen und taumelte im nächsten Augenblick einen Schritt zurück, als Hansen ihm die Faust mit aller Gewalt in den Leib trieb.
»Nicht schlecht«, sagte Artner anerkennend. »Aber auch nicht gut. Jedenfalls nicht gut genug. Den beiden bist du nicht gewachsen, fürchte ich. Sie verstehen ihr Handwerk.« Er lächelte weiter, und diese furchtbare Vertrautheit nahm noch zu. Es war gar nicht sein Gesicht, das sich verändert hatte. Es waren seine Augen. Etwas in seinen Augen, das Hansen wiedererkannte. Etwas, das er beinahe zwanzig Jahre seines Lebens gesehen und fast die gleiche Zeit über gefürchtet hatte. Und gehaßt. Verzweifelt bäumte er sich auf und versuchte auch seinen anderen Arm loszureißen, aber es war so, wie das Artner-Ding gesagt hatte: Er war den beiden Pflegern nicht gewachsen. Die beiden waren viel stärker als er, und was die angeblich so absolute Kraft anging, die die Todesangst verleihen sollte, so war sie entweder nur eine Legende, oder die beiden Pfleger waren im Umgang mit ihr geübt. Er versuchte einen zweiten Fausthieb anzubringen, aber diesmal fing der Mann seinen Schlag mit einer fast spielerischen Bewegung ab, packte ihn und verdrehte seinen Arm. Ein grausamer Schmerz explodierte in seiner Schulter, und er schrie wieder, diesmal vor Qual.
»Seien Sie vorsichtig«, mahnte der Arzt. »Tun Sie ihm nicht unnötig weh.« Er griff in die Tasche, zog ein schmales Etui heraus und entnahm ihm eine bereits fertig aufgezogene Spritze.
»Keine Angst, Hansen«, sagte er. »Sie werden sich gleich besser fühlen. Wir wollen Ihnen doch nur helfen.«