»Das bezweifle ich«, sagte Artner fröhlich. »Ich meine: nicht, daß er dir helfen will. Aber daß du dich gleich besser fühlen wirst.«
Hansen kämpfte mit aller Kraft. Selbst den beiden Pflegern gelang es nur mit äußerster Mühe, ihn auf das Bett zurückzudrücken und so festzuhalten, daß der Arzt die Spritze ansetzen konnte, aber es gelang ihnen. Hansen spürte ein kurzes, aber heftiges Brennen in der Armbeuge und fast unmittelbar darauf ein taubes Gefühl, das sich wie eine warme, beruhigende Woge in seinem ganzen Körper auszubreiten begann.
»Ein Hoch auf die moderne Chemie«, sagte Artner. Er applaudierte spöttisch. Das Skalpell, das noch immer in seinem linken Unterarm steckte, bewegte sich rhythmisch wie der Zeiger eines höllischen Metronoms, und er hatte die Hand vom Gesicht genommen, so daß seine Wange wieder heruntergeklappt war und mit einem flappenden Geräusch gegen sein Kinn schlug.
»Gleich schläfst du ein, wetten wir?« fuhr er fort. »Aber bevor du es tust, habe ich noch eine Überraschung für dich. Paß auf - den Trick kann ich nur einmal vorführen, fürchte ich.«
Er trat einen Schritt zurück und damit halb durch den Arzt hindurch, der die Spritze aus Hansens Vene zog und besorgt und sehr aufmerksam auf ihn herabsah. »Sie fühlen sich gleich besser«, sagte er, »Sie werden einschlafen, und wenn Sie aufwachen, ist alles vorbei, das verspreche ich.«
»Unsinn«, fügte Artner hinzu. »Dabei habe ich ihm so oft gesagt, daß er keine Versprechungen machen soll, die er nicht halten kann. Aber manche lernen es nie.«
Er zog das Skalpell aus seinem Arm, drehte es herum und stieß sich die rasiermesserscharfe Klinge gute zwei Zentimeter in den Bauch. Die Wunde blutete nicht, aber sein Kittel, das Hemd und das weiße Fleisch darunter klappten auseinander und gaben Hansen den Blick auf das rote pulsierende Innere des Körpers frei. Das Ding, das darin hockte.
Hansen wollte schreien, aber er konnte es nicht. Das Medikament, das ihm der Arzt gespritzt hatte, entfaltete seine Wirkung immer rascher. Er war gelähmt, vollkommen hilf- und reglos, doch das Mittel war trotz allem nicht gnädig genug, ihn endlich das Bewußtsein verlieren zu lassen. Er schrie noch immer, aber jetzt war es ein lautloser Schrei, der nicht einmal seine Lippen zittern ließ. Wehrlos mußte er mit ansehen, wie Artner das Skalpell weiter bewegte und eine präzise gerade Linie über seine Brust zog, seine Kehle vertikal spaltete und dann Kinn, Lippen und Nase teilte, ehe die Klinge über seinem Scheitel verschwand und einen Winkel annahm, in dem er sie nicht mehr fuhren konnte. Achtlos ließ er das Messer fallen, griff mit beiden Händen nach oben und riß die Kopfhaut auseinander.
Sein Gesicht öffnete sich mit einem Geräusch wie ein fleischiger Reißverschluß. Artners Arme bewegten sich weiter und zogen Haare, Gesicht und schließlich Schultern und Brust auseinander, und darunter kam ein rotes, glitschiges Etwas zum Vorschein, ein grauenhaftes Ding wie eine übergroße Schlupfwespe, feucht und pulsierend und lebendig. Das Geschöpf streifte Artners Körper ab wie ein Taucher seinen Neoprenanzug, aus dem er sich mühsam herausarbeitete, ebenso langsam, aber auch mit der gleichen Zielsicherheit. Aber es war kein Geschöpf. Kein Monster.
Es war sein Bruder.
»Hallo, Gerd«, sagte er lächelnd. »Schön, daß du wieder da bist. Ich wußte immer, daß wir uns wiedersehen.«
Hansen konnte spüren, wie seine Augen aus den Höhlen quollen. Er begann zu zittern. Ein leiser, wimmernder Schrei kam über seine Lippen.
»Da stimmt was nicht, Doktor«, sagte einer der Pfleger. Er und sein Kollege traten wieder näher und streckten die Hände nach Hansen aus, ohne ihn allerdings schon zu berühren.
»Hast du wirklich gedacht, du wärst mich los?« fragte Fred. Auf seinem rotweiß marmorierten Gesicht erschien ein furchtbares, blutiges Lächeln. Er sprach jetzt nicht mehr mit Artners Stimme, sondern mit dem monotonen Singsang, der Freds einzige mögliche Betonung gewesen war, aber seine Augen hatten sich abermals verändert. Etwas war darin, das Hansen niemals im Leben in den Augen seines Bruders gesehen hatte: Bewußtsein. Wille. Sein Bruder hatte die Fesseln endlich abgestreift, die seinen Geist zeit seines Lebens im Alter von vier oder fünf Jahren festgehalten hatten. Aber was da erwacht war, das war etwas Böses, etwas unvorstellbar Finsteres und Zerstörerisches.
»Du hast mich gehaßt, nicht wahr?« fuhr er fort. »Streite es nicht ab, ich weiß es. Du hast mich vom ersten Tage an gehaßt. Du hast den liebenden Bruder gespielt, und alle haben dir geglaubt, aber das war eine Lüge. Du hast mich mein Leben lang gehaßt, weil Mutter und Vater mich geliebt haben, viel mehr als dich. Du hast mich gehaßt, weil sie Mitleid mit mir hatten, wegen meiner Behinderung, und der Aufmerksamkeit, die alle mir geschenkt haben, und nicht dir. Hast du etwa gedacht, ich weiß es nicht? Ich wußte es, Gerd. Jeden Tag meines Lebens, jede Stunde, jede Sekunde hast du dir gewünscht, daß ich sterbe, und ich habe es jeden Tag, jede Stunde und jede Sekunde gespürt.«
Das Ding hatte sich jetzt bis zur Hüfte aus Artners Körper herausgearbeitet, aber es machte keine Anstalten, ihn vollends abzustreifen. Langsam kam es näher. Artners Haut schlabberte wie ein halb heruntergezogener Overall um seine Hüften und verursachte schreckliche nasse Laute, während sie über das Bett streifte. »Du warst froh, als ich endlich gestorben bin«, fuhr es fort. »Du hast den Trauernden gespielt, aber innerlich hast du jubiliert. Glaub nicht, daß ich es nicht wußte. Aber du bist mir nicht entkommen. Ich war die ganze Zeit bei dir, und weißt du was? Ich werde noch viel länger bei dir sein. Für immer. Wir werden für alle Ewigkeiten vereint sein, wie es Brüder doch sein sollen, oder?«
Sein Bruder beugte sich vor und streckte die Hände nach ihm aus, die noch bis zu den Unterarmen in den abgerissenen Artner-Handschuhen steckten, und die Vorstellung, von diesen grauenhaften Händen berührt zu werden, war mehr, als Hansen ertrug.
Er bäumte sich auf. Eine Woge reiner, weißglühender Panik schwemmte die Wirkung des betäubenden Medikamentes aus seinem Körper heraus, und die absolute Kraft, die er gerade vermißt hatte, war plötzlich da. Die beiden Pfleger versuchten ihn zu packen und festzuhalten, aber Hansen schüttelte sie einfach ab. Einer der Männer ging lautlos zu Boden, als ihn seine Faust traf, der andere stolperte schreiend zurück, prallte gegen die Wand und sank ebenfalls auf die Knie.
Das Ungeheuer kam noch immer näher. Hansen kreischte. Verzweifelt kroch er weiter vor ihm davon, stürzte vom Bett und rappelte sich ungeschickt wieder hoch. Sein Bruder stand vor ihm, die Arme ausgebreitet und die Hände weit geöffnet, aber nicht in einer zupackenden, sondern umarmenden Geste.
»Du kannst nicht vor mir davonlaufen, Gerd«, sagte er. »Du kannst es versuchen, aber es ist sinnlos. Wir gehören zusammen. Für alle Zeiten.«
Hansen stürzte mit einem gellenden Schrei los. Der Arzt versuchte nach ihm zu greifen und büßte zwei Fingernägel ein. Als er mit einem Schmerzensschrei zu Boden ging, sprang Hansen über das Bett und raste weiter, und obwohl die Zelle so winzig war, daß er nicht einmal zwei ganze Schritte Anlauf nehmen konnte, reichte die Wucht, mit der er seinen eigenen Schädel gegen den stählernen Türrahmen rammte, doch aus, um ihn auf der Stelle zu töten.
18. Kapitel
Kommissar Sendig legte den Telefonhörer mit einer übertrieben präzise wirkenden Bewegung auf die Gabel zurück. Er hatte während der vergangenen halben Stunde nicht nur mehrere, sondern eine ganze Menge Telefongespräche geführt, und obwohl Bremer die ganze Zeit über im Zimmer gewesen war, hatte er nicht alles verstanden - was nicht etwa daran lag, daß er zu leise oder zu laut gesprochen hätte oder in einer fremden Sprache. Vielmehr hatten einige dieser seltsamen Telefonate aus wenig mehr bestanden, als daß Sendig seinen Namen genannt, die eine oder andere Andeutung gemacht und dann die meiste Zeit einfach nur zugehört hatte. Eines aber war ihm in dieser Zeit endgültig klargeworden (nein. Gewußt hatte er es schon lange. Aber jetzt gab es nicht einmal mehr eine Möglichkeit, die Augen davor zu verschließen): daß Sendig sehr viel mehr wußte, als er zugab.