Er wartete sekundenlang vergebens darauf, daß Sendig endlich etwas sagte, dann hörte er auf, ihn anzustarren, und drehte sich statt dessen in seinem Stuhl herum, um einen langen, aufmerksamen Blick durch den Raum zu werfen. Das hatte er schon ein halbes Dutzend Mal getan, seit sie hereingekommen waren und Sendig angefangen hatte zu telefonieren, aber der Anblick überraschte ihn selbst jetzt beinahe ebensosehr wie im allerersten Moment. Dieses Zimmer paßte so wenig zu Sendig, wie es nur vorstellbar war. Immerhin war sein grauhaariges Gegenüber nicht irgendwer, sondern der Leiter der Mordkommission, und Bremer hatte ganz automatisch unterstellt, daß er ein großzügiges und vor allem repräsentatives Büro sein eigen nennen würde. Das genaue Gegenteil war der Fall. Sendigs Büro war nicht nur winzig, der einzige passende Ausdruck, der ihm dafür einfiel, war schäbig. Der Raum maß kaum fünf mal fünf Schritte und hatte nur ein einziges Fenster, das ungefähr so breit wie ein zusammengefaltetes Handtuch war, und das Mobiliar mußte älter sein als sein Besitzer, allerdings nicht annähernd so gut gepflegt. Das Vorzimmer, durch das sie gerade gekommen waren und in dem gleich drei Sekretärinnen samt Computern, Telefaxgeräten und allem anderen technischen Schnickschnack Dienst taten, war gut dreimal so groß wie Sendigs eigentliches Büro. Er fragte sich, ob dieser Umstand etwas darüber aussagte, wie es in Sendig aussah - und wenn ja, was.
»Das ist wohl... seltsam«, sagte Sendig. Bremer drehte sich wieder zu ihm herum und bekam gerade noch den Rest der Kopfbewegung mit, mit der Sendig auf das Telefon vor sich gedeutet hatte.
»Was?«
»Dieses letzte Gespräch.« Sendig rollte seinen Stuhl weit genug vom Schreibtisch zurück, um eine Schublade aufziehen zu können, und begann hektisch darin herumzukramen. »Raten Sie, wer das war.«
Bremer riet nicht. Er war nicht in der Stimmung für Small talk. Schon seit gestern nacht nicht mehr.
»Na ja, macht auch nichts«, fuhr Sendig fort. Er hatte sich so weit vorgebeugt, daß Bremer sein Gesicht nicht mehr sehen konnte, und dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen, mußte sich der größte Teil seines Kopfes in der Schreibtischschublade befinden. »Der Name hätte Ihnen sowieso nichts gesagt. Es war jemand, der mir einen Gefallen schuldig ist.«
Er richtete sich wieder auf, zog eine Pistole samt Schulterhalfter aus der Schublade und placierte sie mit durch und durch zufriedenem Gesichtsausdruck vor sich auf dem Tisch. »Gut. Ich dachte schon, ich hätte sie irgendwo verkramt. Peinlich, peinlich.«
»Und was für ein Gefallen war das?« fragte Bremer verärgert. Sendig bestimmte noch immer die Spielregeln, ganz gleich, was er auch versuchte.
»Wir können Ihrer kleinen Freundin jetzt sagen, wo ihr Mann ist«, antwortete Sendig.
»Ich kenne die Frau kaum«, antwortete Bremer. »Sie ist nicht meine Freundin.«
»Aber Hansen war doch Ihr Partner, oder?«
»Seit ein paar Tagen«, antwortete Bremer. »Aber das ändert nichts daran, daß er ein Kollege ist.«
»Oh ja, und Kollegen halten zusammen, sicher.« Sendig zog die Pistole aus dem Halfter, ließ das Magazin herausschnappen und verzog die Lippen, als er feststellte, daß es leer war.
»So ist es«, sagte Bremer, nun schon in hörbar gereizterem Ton. Was für ein Spiel spielte Sendig jetzt schon wieder mit ihm? Aber dann bemerkte er etwas, was ihm bisher entgangen war: Sendig hatte eine weitere Schublade aufgezogen und kramte darin herum - wahrscheinlich suchte er die Patronen für die Waffe, die er sichtlich seit Monaten oder vielleicht auch Jahren nicht mehr in die Hand genommen hatte -, aber seine Bewegungen waren etwas zu schnell und etwas zu hektisch, sein Lächeln ein wenig zu verkniffen. Sendig spielte keine Spielchen mit ihm. Er war nervös. Sehr nervös.
In versöhnlicherem Tonfall fuhr er fort: »Wenn Sie mir die Adresse sagen, gehe ich hinaus und rufe Hansens Frau an. Sie wird mittlerweile wahrscheinlich halb verrückt vor Sorge sein.«
Sendig hatte die Patronen gefunden und begann das Magazin zu laden. Er sah überallhin, nur nicht in Bremers Richtung. »Das wird nicht gehen, fürchte ich«, sagte er.
»Wieso nicht? Ich denke, Sie wissen, wo er ist.«
»Das weiß ich auch. Aber ich fürchte, wir können es ihr im Moment noch nicht sagen. Jedenfalls nicht, ehe ich nicht etwas ... überprüft habe.« Eine der Patronen, die er mit mehr Kraft als Geschick in das Magazin schob, entglitt seinen Fingern und rollte über den Schreibtisch. Bremer griff automatisch zu, verfehlte sie aber und mußte sich bücken, um sie vom Boden aufzuheben. Als er sich wieder aufrichtete und sie Sendig reichte, zitterten dessen Hände so stark, daß er Mühe hatte, das Geschoß zu ergreifen.
»Was ist los mit Ihnen, Sendig?« fragte Bremer geradeheraus.
»Was soll sein?« fragte Sendig. »Ich bin müde und vielleicht ein bißchen nervös, und -«
»Quatsch«, unterbrach ihn Bremer. »Sie sind nicht ein bißchen nervös. Sie haben Angst.«
Sendig überraschte ihn erneut. Er versuchte nicht einmal, zu leugnen. »Ja, vielleicht«, gestand er. Seltsamerweise wirkte er plötzlich wieder ruhiger - fast als hätte ihm allein dieses Eingeständnis geholfen, mit seiner Furcht fertig zu werden. »Es hat wohl nicht viel Sinn, Ihnen etwas vormachen zu wollen, oder? Aber jetzt fragen Sie mich bitte nicht, wovor ich mich fürchte. Ich werde es Ihnen erzählen, aber zuerst muß ich noch etwas überprüfen.«
»Noch etwas?« fragte Bremer.
»Nein, es ist das gleiche.« Sendig hatte die Pistole endlich geladen und begann umständlich das Schulterhalfter anzulegen. Sein ungeschicktes Hantieren bestätigte Bremers Theorie: Es war etliche Jahre her, daß er diese Bewegungen das letzte Mal ausgeführt hatte. Bremer hatte immer gedacht, daß man so etwas nie wieder verlernt, aber das schien nicht zu stimmen.
»Wir können beides an einem Ort erledigen«, fuhr Sendig fort. »Uns um Hansen kümmern und meine Theorie überprüfen.«
»Und dazu brauchen Sie eine Waffe?«
»Vielleicht.« Sendig biß sich auf die Unterlippe. Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein Schatten in seinen Augen, aber er erlosch zu schnell, als daß Bremer sicher sein konnte. »Wahrscheinlich nicht, aber ich habe mir sowieso vorgenommen, das Ding dann und wann einmal wieder zu tragen. Nur, um nicht aus der Übung zu kommen.« Dann wurde seine Stimme leiser, und plötzlich war der Schatten nicht mehr in seinem Blick, sondern in seinen Worten: »Wenn wir das finden, was ich befürchte, wird sie mir sowieso nichts nutzen. Aber es ist vielleicht ein gutes Gefühl, wenigstens eine Waffe dabeizuhaben.«
»Was befürchten Sie denn zu finden?« fragte Bremer.
Tatsächlich setzte Sendig zu einer Antwort an. Im allerletzten Moment stockte er, blinzelte überrascht und drohte Bremer dann spielerisch mit dem Finger. »Nicht schlecht, der Versuch«, sagte er. »Beinahe hätte es geklappt. Aber nur beinahe. Ich sagte Ihnen doch - Sie werden alles erfahren, sobald ich Gewißheit habe.«
Bremer schüttelte den Kopf. »Jetzt«, sagte er. »Es reicht, Sendig. Ich habe keine Lust mehr, wie ein Dummkopf herumzulaufen und nicht einmal zu wissen, wonach wir eigentlich suchen.«
»Das weiß ich ja selbst nicht«, sagte Sendig. »Okay, ich weiß, Sie glauben mir nicht, aber es ist die Wahrheit. Ich ... weiß es nicht. Noch nicht. Ich habe eine Theorie, aber sie ist einfach zu verrückt, um sie auszusprechen.«
»Verrückt?« Bremer lachte ganz leise und ohne Humor. Was von allem, was er seit der vergangenen Nacht erlebt hatte, war wohl nicht verrückt, auf die eine oder andere Weise? »Oder haben Sie einfach Angst davor?«