Bremer griff in die Jackentasche und zog das Foto aus Mogrods Dunkelkammer heraus. Es war jetzt vollkommen schwarz. Nachdem er das Bild aufgehoben und trockengewischt hatte, hatte die Entwicklerflüssigkeit verspätet ihren Dienst getan und das Blatt in eine identische Kopie der übrigen Fotos verwandelt, die in der Chemiebrühe auf dem Boden schwammen. Sowohl der unheimliche Umriß, den Bremer darauf erkannt hatte, als auch das, was Sendig so augenscheinlich zu Tode erschreckt hatte, waren verschwunden. Trotzdem zitterten Sendigs Hände wieder leicht, als er es entgegennahm, und er starrte es zu lange und zu intensiv an. Für ihn war es ganz eindeutig mehr als ein schwarzes Blatt Fotopapier.
»Was haben Sie darauf gesehen, Bremer?« fragte er.
»Gesehen? Ich verstehe nicht... Dasselbe wie Sie, vermute ich.«
Sendig lächelte ein sehr seltsames, fast melancholisch wirkendes Lächeln. »Das bezweifle ich«, sagte er. Ganz unvermittelt ließ er das Foto auf den Schreibtisch sinken, schob es ein kleines Stück von sich fort und nahm es dann noch einmal zur Hand, um es herumzudrehen, so daß die geschwärzte Vorderseite unten lag. Als ertrüge er es nicht, es noch weiter anzusehen, dachte Bremer.
»Was ist das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können, Bremer?« fragte Sendig nach einer Weile.
Bis zu meiner Pensionierung mit dir zusammenarbeiten zu müssen, dachte Bremer. Natürlich hätte er sich gehütet, es laut auszusprechen, aber Sendig schien irgend etwas in dieser Art zu erwarten, denn er lächelte einen ganz kurzen Moment lang, ehe er wieder ernst wurde und hinzufügte: »Ich meine es ernst, Bremer. Haben Sie sich schon einmal Gedanken über Ihren schlimmsten Alptraum gemacht? Etwas, dessen bloßer Anblick schrecklich genug wäre, Sie um den Verstand zu bringen?«
»Sie meinen, so weit, daß ich meine Wohnung schwarz anmale und aus dem Fenster springe?« fragte Bremer.
Sendig nickte. »Zum Beispiel.«
»So etwas gibt es nicht«, antwortete Bremer, mit einer Überzeugung in der Stimme, die er nicht einmal annähernd empfand. Es war noch nicht lange her, da hatte er etwas gesehen, das ihn vielleicht nicht in den Wahnsinn, aber doch an den Rand seiner Selbstbeherrschung getrieben hatte.
»Wer weiß«, sagte Sendig. »Aber Sie werden zugeben, daß es gewisse Drogen gibt, die eine solche Wirkung haben können.«
Allmählich wurde die Sache doch noch interessant. Sendig redete zwar weiter um den heißen Brei herum, aber die Kreise, die er zog, wurden beständig kleiner. Warum sagte er nicht einfach, was er dachte? Es gehörte nicht unbedingt das kriminalistische Talent eines Sherlock Holmes dazu, um sich zusammenzureimen, daß er über die Substanz sprach, die sie in der Nacht in Löbachs Kühlschrank gefunden hatten.
»Sicher«, antwortete er. »Aber das ist doch wohl etwas anderes, oder? Möglicherweise hat dieser Löbach Drogen genommen, und vielleicht sogar der Fotograf. Aber Artner? Und dieser Pathologe?«
»Und vermutlich noch ein paar andere - ich sagte ja, ich muß erst noch eine paar Dinge klären, ehe ich Ihnen meine Theorie mitteilen kann«, sagte Sendig. »Ich -«
Das Telefon klingelte. Sendig blickte den Apparat einen Moment lang feindselig an, ehe er mit einer eindeutig widerwilligen Bewegung abhob und sich meldete: »Ja?«
Was immer er hörte, dachte Bremer - es gefiel ihm nicht. Das Gespräch dauerte nur ein paar Augenblicke, und Sendig sagte kein Wort, aber sein Gesichtsausdruck sprach Bände. Nachdem er eingehängt hatte, starrte er ein paar Sekunden lang an Bremer vorbei ins Leere. Dann stand er mit einem Ruck auf. »Kommen Sie. Wir kümmern uns jetzt zuerst einmal um Ihren Kollegen Hansen. Reden können wir genausogut im Wagen.«
Bremer machte keinen Hehl aus seiner Enttäuschung. Er hatte zumindest etwas erwartet, das einer Erklärung nahekam, aber Sendigs sonderbare Frage hatte seine Verwirrung nur noch gesteigert. Er erhob sich ebenfalls und wollte nach dem Bild greifen, aber Sendig war schneller. Mit einer raschen Bewegung verstaute er es in der Innentasche seines Jacketts und kam gleichzeitig um den Schreibtisch herum. »Kommen Sie, Bremer, beeilen wir uns ein bißchen.«
Seine plötzliche Hast wäre Bremer selbst dann aufgefallen, wenn er nicht schon vorher gewußt hätte, daß mit Sendig etwas nicht stimmte. Er folgte ihm gehorsam, machte aber ein paar schnelle Schritte, so daß er ihn kurz vor der Tür einholen und mit einer entsprechenden Bewegung zum Stehenbleiben bringen konnte. »Was ist los?« fragte er geradeheraus. »Wieso haben wir es plötzlich so eilig?«
Er rechnete fest mit einer weiteren Ausflucht oder gar keiner Antwort, aber Sendig überraschte ihn erneut. »Ich glaube, ich habe ein bißchen zuviel herumtelefoniert«, sagte er. »Das Gespräch gerade...«
»Wieder jemand, der Ihnen einen Gefallen schuldig ist?« fragte Bremer spöttisch.
Sendig nickte. »Ja. Ich bin ein sehr hilfsbereiter Mensch, wissen Sie. Wenn man sich das zum Prinzip macht, dann gibt es am Ende eine Menge Leute, die Ihnen einen Gefallen schulden. Und jetzt kommen Sie - wir haben wirklich keine Zeit mehr zu verlieren. Reden können wir wirklich auch im Wagen.«
Ehe Bremer Gelegenheit gefunden hätte, erneut zu widersprechen, öffnete er die Tür und trat ins Vorzimmer hinaus, und allein die Autorität dieses geschäftigen Raumes mit seinen drei Sekretärinnen und dem beachtlichen Präventivaufgebot an Technik machte es Bremer unmöglich, ihn abermals aufzuhalten.
»Ich bin dann außer Haus, Nadine«, sagte Sendig, während sie dem Ausgang zusteuerten. »Sie können pünktlich Feierabend machen. Ich komme heute wahrscheinlich nicht mehr herein.«
»Aber Me -«
»Und ich bin auch für niemanden zu erreichen, verstanden?« Sendig hielt für einen Moment im Schritt inne und maß seine Sekretärin mit einem Blick, unter dem sie sichtlich zusammenzuschrumpfen schien. »Auch nicht über Funk. Im Notfall können Sie mich über meine Privatnummer im Wagen anrufen, aber nur Sie, und wirklich nur im äußersten Notfall. Sollte das Telefon klingeln und jemand anders als Sie dran sein, können Sie sich als gefeuert betrachten, verstanden?«
»Selbstverständlich«, antwortete Nadine kleinlaut. Bremer verspürte erneut ein heftiges Mitleid mit ihr und ihren beiden Kolleginnen. Er fragte sich, wie es jemand aushielt, Jahre oder gar Jahrzehnte für einen Chef wie Sendig zu arbeiten. Er selbst war noch nicht einmal seit zwölf Stunden mit ihm zusammen, und das waren schon zwölf Stunden zuviel.
»Sind Sie immer so unfreundlich zu Ihren Leuten?« fragte er, als sie das Vorzimmer verlassen hatten und den Aufzug ansteuerten.
»Wenn ich schlechte Laune habe, ist es schlimmer«, antwortete Sendig. »Richtig unfreundlich werde ich eigentlich nur zu Leuten, die ihre Nase in Dinge stecken, die sie nichts angehen.«
»Verstanden«, sagte Bremer. »Das war deutlich genug.«
»Das sollte es sein«, antwortete Sendig. Sie hatten den Aufzug fast erreicht, als ein leiser Glockenton erscholl und die Türen sich zu schließen begannen. Bremer wollte instinktiv schneller ausschreiten - sie waren nur noch zwei, drei Schritte entfernt, und er hätte die Kabine bequem erreichen und aufhalten können, indem er die Lichtschranke in der Tür unterbrach. Aber Sendig hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück.
»Lassen Sie«, sagte er. »Wir nehmen die Treppe.«
Bremer blickte ihn fragend an. Es waren fünf Stockwerke bis nach unten. »Wieso?«
»Ich bin auf den Geschmack gekommen«, antwortete Sendig. »Das Treppensteigen in Mogrods Haus hat mir wirklich Spaß gemacht. Mal sehen, ob es hier auch funktioniert.«
»Sehr komisch«, sagte Bremer. Aber er folgte Sendig trotzdem gehorsam, als dieser sich herumdrehte und mit plötzlich sehr viel schnelleren Schritten als bisher den Weg zurückging, um die schmale Tür am Ende des Flures zu erreichen. Sendig öffnete sie, wedelte ungeduldig mit der Hand, als Bremer ihm nicht rasch genug folgte, und zögerte gerade lange genug, damit es auffiel, ehe er die Tür wieder schloß. Lange genug, dachte Bremer, um dem Aufzug noch einen prüfenden Blick zuzuwerfen.