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»Vor wem laufen wir davon?« fragte er, als sie nebeneinander die Treppe hinuntergingen.

»Tun wir das?« entgegnete Sendig ausweichend.

»Aber nein doch«, sagte Bremer. »Sie haben es ja selbst gesagt: Treppensteigen macht Spaß. Außerdem ist es gesund, nicht wahr?«

»Ich laufe vor niemandem davon«, antwortete Sendig betont. »Sagen wir: Ich erwarte jemanden, mit dem ich im Moment nicht unbedingt reden möchte.«

Das war alles, was er zu diesem Thema äußerte, bis sie das Erdgeschoß erreichten. Bremer versuchte noch zwei- oder dreimal, ihm eine Antwort abzuluchsen, aber Sendig schaltete jetzt wieder auf stur und sagte gar nichts. Schließlich sparte sich Bremer seinen Atem dafür, neben ihm die Stufen hinunterzulaufen und irgendwie mit ihm Schritt zu halten. Wie schon einmal an diesem Tag bewies ihm Sendig, daß älter nicht zwingend auch schlechter in Form zu sein bedeutete. Bremer war in Schweiß gebadet, nachdem sie die fünf Treppen hinuntergelaufen waren, während Sendig nur ein bißchen schwerer atmete als normal.

»Warten Sie hier«, sagte er. »Ich bin sofort zurück.«

Er öffnete die Tür und schlüpfte hindurch, und Bremer blieb allein im Treppenhaus zurück. Er war beinahe dankbar für die kurze Pause. Sie waren die letzten beiden Etagen mehr hinuntergerannt als gegangen. Seine Waden und sein Rücken schmerzten, und er spürte jede einzelne Stufe, die sie hinuntergegangen waren. Außerdem schlug sein Herz so schnell, daß er ein paarmal bewußt tief ein- und ausatmete, um seine Lungen mit frischem Sauerstoff vollzupumpen. Er war wirklich nicht gut in Form. Und auch wenn Sendig es sich nicht anmerken ließ, konnte er sich kaum besser fühlen. Warum also hatte er diese unnötige Anstrengung in Kauf genommen? Bestimmt nicht nur, weil er irgend jemandem nicht begegnen wollte. Es sei denn, es war eben nicht irgend, sondern ein ganz bestimmter Jemand.

Zum Beispiel jemand mit einer ganz bestimmten Art von Dienstausweis?

Weit über ihm fiel eine Tür ins Schloß. Bremer fuhr zusammen, drehte sich hastig herum und legte den Kopf in den Nacken. Aus irgendeinem Grund brannte hier unten, im Erdgeschoß, kein Licht, aber die darüberliegenden Etagen waren hell erleuchtet. Die Treppe drehte sich wie ein kubisches Schneckenhaus in scheinbar kleiner werdenden eckigen Spiralen über ihm in die Höhe, und er hörte auch ganz deutlich Schritte, konnte aber niemanden sehen. Trotzdem - jemand kam die Treppe herunter. Instinktiv sah er sich nach einem Versteck um.

Dann erst wurde ihm klar, wie albern er sich benahm.

Jemand kam die Treppe herunter. Und? Dazu waren Treppen schließlich da, selbst in Häusern, die über Aufzüge verfügten.

Bremer lächelte nervös, sah sekundenlang die Tür an, hinter der Sendig verschwunden war, und drehte sich dann wieder herum. Die Schritte waren näher gekommen, aber er konnte noch immer niemanden sehen.

Aber etwas stimmte nicht mit diesen Schritten. Sie waren... Er konnte nicht sagen, was es war, aber es war deutlich. Irgend etwas war mit diesem Geräusch nicht in Ordnung. Eigentlich klang es gar nicht wirklich wie Schritte, sondern eher wie... ein Gleiten. Als schwebe etwas die Treppe herunter, das nur dann und wann die Stufen berührte.

Unsinn! dachte Bremer. Er war dabei, sich in etwas hineinzusteigern, das nicht gut war. Nach dem, was er in den letzten Stunden erlebt hatte, hatte er vermutlich ein Recht auf ein wenig Nervosität, aber er lief allmählich Gefahr, regelrecht hysterisch zu werden. Das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können? Unsinn!

Aber er hatte sich den Schatten im Spiegel nicht eingebildet. Sowenig wie die leuchtende Engelsgestalt, die er auf dem Foto in Mogrods Dunkelkammer gesehen hatte. Was war los mit ihm? Wurde er allmählich hysterisch? Aus dem einzigen Grund, sich selbst zu beweisen, wie lächerlich seine Befürchtungen waren, trat er wieder zwei Schritte weit ins Treppenhaus zurück und sah die Treppe hinauf.

In der nächsten Sekunde schon wünschte er sich, es nicht getan zu haben.

Das Geräusch war keine Einbildung gewesen. Jemand kam tatsächlich die Treppe herab. Aber er war nicht sicher, ob es wirklich ein Jemand war - und nicht ein Etwas.

Bremers Atem stockte. Er konnte nur einen schwarzen Schattenriß gegen den helleren Hintergrund des Treppenhauses erkennen, aber etwas an diesem Umriß war auf furchtbare Weise falsch. Er war zu groß und irgendwie mißgestaltet, ohne daß er diesen Eindruck hätte begründen können, und er wirkte auf sonderbare Weise... asymmetrisch. Und noch etwas: Bremer konnte jetzt sehen, daß er die Treppenstufen tatsächlich nicht berührte, sondern eine Handbreit darüber hinwegglitt, wobei er dieses seltsam rhythmische, schleifende Geräusch verursachte, das er fälschlicherweise für Schritte gehalten hatte. Und nun hörte er auch etwas wie Atemzüge: ein schweres, rasselndes Atmen, das keinesfalls das eines Menschen sein konnte, aber auch nicht das irgendeines Tieres, das er kannte.

»Nein«, flüsterte Bremer. Er hätte das Wort geschrien, wenn er gekonnt hätte, aber seine Stimmbänder versagten ihm den Dienst. »Nein! Geh... weg. Geh!«

Die Tür ging auf. Bremer fuhr mit einer entsetzten Bewegung herum, und sein Zustand mußte sich überdeutlich auf seinem Gesicht abzeichnen, denn Sendig stockte mitten im Schritt, starrte ihn den Bruchteil einer Sekunde lang erschrocken an und griff dann blitzschnell unter die Jacke. »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete Bremer. Sein Herz hämmerte. Die Schritte, die keine waren, waren nicht mehr da. Sie waren im gleichen Moment verstummt, in dem Sendig die Tür geöffnet und den finsteren Zauber des Moments damit durchbrochen hatte, und seine Logik sagte ihm, daß auch der Schatten nicht mehr da war: zum einen, weil Sendig ihn unbedingt hätte sehen müssen, und zum anderen, weil er niemals dagewesen war.

»Nichts? Ja, so sehen Sie auch aus.« Sendig nahm die Hand wieder unter der Jacke hervor, ohne die Waffe zu ziehen, trat aber mit einem raschen Schritt an Bremer vorbei und warf einen sehr langen und sehr mißtrauischen Blick nach oben. Bremer wartete auf einen Schrei oder irgendein anderes Anzeichen dafür, daß auch Sendig etwas sah, aber natürlich kam es nicht. Trotzdem wagte er es nicht, sich herumzudrehen. Ganz gleich, ob das Ding nun da war oder nicht, es würde ihn zweifellos erwischen, wenn er sich herumdrehte und es ansah.

»Da ist nichts«, sagte Sendig mißtrauisch. »Was ist denn los mit Ihnen?«

»Nichts«, antwortete Bremer erneut. Er hustete, um das heftige Zittern seiner Stimme zu verbergen. »Ich dachte für einen Moment, ich hätte etwas gehört, aber ich muß mich wohl getäuscht haben.«

Sendigs Blick erzählte auf seine eigene Weise, was er von dieser Antwort hielt. Aber er ging nicht weiter darauf ein, sondern zuckte nur die Achseln und deutete mit einer Kopfbewegung zur Tür. »Kommen Sie.«

Nach der Dämmerung, die im unteren Teil des Treppenhauses geherrscht hatte, erschien ihm das Sonnenlicht in der fast völlig aus Glas bestehenden Halle unnatürlich grell. Er blinzelte ein paarmal und fuhr sich mit der Hand über die Augen, aber so unangenehm die Helligkeit im allerersten Moment auch war, so geborgen fühlte er sich plötzlich darin. Zum allerersten Mal im Leben begriff er, wieso Menschen Angst vor der Dunkelheit hatten. Bisher war ihm dieses Gefühl vollkommen fremd gewesen, aber er hatte es kennengelernt. Sie verließen das Gebäude, ohne zu reden, und Bremer hielt ganz automatisch auf den Wagen zu, mit dem sie gekommen waren. Als er die Hand nach dem Türgriff ausstreckte, schüttelte Sendig den Kopf, griff in die Jackentasche und zog einen Schlüsselbund hervor, den er ihm zuwarf. Bremer fing ihn instinktiv auf - ohne allerdings zu wissen, was er damit sollte.