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»Wir trennen uns für einen Moment«, sagte Sendig, »Sie können meinen Privatwagen nehmen - der graue 450er dort drüben, gleich neben dem Tor. Sehen Sie ihn?«

Bremer blickte in die bezeichnete Richtung und riß ungläubig die Augen auf, als er den silbergrauen Mercedes sah, der auf einem gesonderten Parkplatz direkt neben dem Tor stand. Der Wagen mußte deutlich mehr kosten, als er in zwei Jahren verdiente, und er war ungefähr so groß wie ein Güterzug.

»Meinen Sie das ernst?« fragte er.

Sendig grinste. »Erzählen Sie mir nicht, daß Sie sich noch nie gewünscht hätten, so einen Wagen zu fahren. Und da behaupten Sie, ich wäre unfreundlich zu meinen Mitarbeitern?«

»Was... was soll das?« fragte Bremer verwirrt. Sendig täuschte sich - er war überhaupt nicht versessen darauf, mit einem solchen Wagen zu fahren, schon gar nicht, wenn er ihm nicht gehörte. Wenn er auch nur einen Kratzer verursachte, würde ihn das wahrscheinlich zwei volle Monatsgehälter kosten.

»Ich bin gut versichert«, antwortete Sendig, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Außerdem kenne ich Ihre Personalakte. Sie sind ein guter Fahrer. Und wir brauchen zwei Wagen. Sie fahren jetzt hinaus zum Krankenhaus und sehen nach Hansen, und ich... muß mit jemandem reden. Wir treffen uns in zwei Stunden.«

»Ich kann irgendeinen Dienstwagen nehmen«, sagte Bremer, aber Sendig schüttelte beharrlich den Kopf.

»Es ist mir lieber, wenn ich meinen Wagen dabeihabe«, sagte er. »Es wird vermutlich spät werden, und ich habe keine Lust, extra noch einmal hierherzukommen, nur um den Wagen zu holen.«

»Und wo treffen wir uns?« fragte Bremer. Der Gedanke gefiel ihm immer noch nicht, aber wie meistens hatte es gar keinen Zweck, mit Sendig zu diskutieren.

Sendig zog einen zusammengefalteten Zettel aus der Tasche und reichte ihn über das Dach. »Ich warte im Wagen, direkt vor der Tür«, sagte er. »Wenn ich nicht da bin, warten Sie auf mich. Aber ich schätze, ich werde schneller sein. Oh ja, noch etwas - wenn Sie nach Hansen gesehen haben, fahren Sie nach Hause und ziehen sich um. Wir müssen vielleicht jemanden observieren. In Uniform ist das etwas schwierig.«

»Und Hansen?« fragte Bremer. »Ich meine, in welchem Krankenhaus liegt er eigentlich?«

»Habe ich das nicht gesagt? Im St.-Eleonor-Stift. Sie wissen, wo das ist?«

»Das St.-Eleonor?« Bremer staunte. »Aber das ist ... kein Krankenhaus.«

»Wie man's nimmt«, antwortete Sendig. »Jedenfalls ist es eine Klinik.«

»Es ist eine Irrenanstalt«, antwortete Bremer betont.

»Ja, und zwar die gleiche, in der Sillmanns Frau untergebracht ist«, bestätigte Sendig ungerührt. »Und in der der selige Professor Artner gearbeitet hat Ein glücklicher Zufall, nicht wahr? Das erspart uns einen Weg.«

»Aber... aber wieso sollten sie Hansen dorthin bringen?« fragte Bremer hilflos. »Er hatte doch nur einen Schock!«

»Genau das sollen Sie ja herausfinden.« Sendig stieg ein und ließ das Seitenfenster herunter, so daß Bremer sich vorbeugen mußte, um über den Beifahrersitz hinweg weiter mit ihm reden zu können. »Es würde mich nicht überraschen, wenn sie leugnen, daß er dort ist. Aber er ist es, verlassen Sie sich darauf. Machen Sie ruhig gehörig Druck, wenn man Ihnen dumm kommt. Aber lassen Sie meinen Namen aus dem Spiel - wenigstens vorerst.«

Bremer hatte noch tausend Fragen, aber Sendig startete den Motor und ließ den Wagen langsam zurückrollen, so daß er beiseitetreten mußte, ob er es wollte oder nicht. Einen Moment später war er allein. Sendig hatte gewendet und fuhr in raschem Tempo auf die Straße hinaus.

Bremer blickte ihm kopfschüttelnd nach. Er verstand überhaupt nichts mehr. Wieso sollten sie Hansen ausgerechnet in diese Klinik gebracht haben? Ganz abgesehen davon, daß es der Zufälle vielleicht ein bißchen zu viele waren - er wußte nicht viel über das St.-Eleonor-Stift, aber doch immerhin, daß es sich nicht um eine x-beliebige Nervenheilanstalt handelte, sondern um eine Privatklinik, deren Patienten fast ausnahmslos aus gutbetuchten Familien stammten. Es war ganz bestimmt kein Krankenhaus, in das man einen Polizeibeamten brachte, der im Dienst verletzt worden war. Und schon gar nicht in aller Heimlichkeit und ohne seine Angehörigen zu benachrichtigen.

Langsam ging er auf Sendigs Mercedes zu und umkreiste das Fahrzeug einmal, ehe er die Tür öffnete. Er hatte beinahe Hemmungen, einzusteigen. Der Geruch von teurem Leder und edlem Holz schlug ihm entgegen, und als er sich hinter das Steuer setzte, sank er so tief in den Ledersitz ein, daß er fast erschrak. Seine Finger zitterten leicht, als er den Schlüssel ins Schloß steckte.

Der Motor sprang mit einem satten Röhren an, das die gewaltige PS-Zahl verriet, die unter der abgerundeten Motorhaube eingepfercht war, lief dann aber fast lautlos. Bremer suchte einen Moment vergebens nach dem Kupplungspedal, ehe ihm auffiel, daß er in einem Automatikwagen saß - eigentlich eine sonderbare Kombination für ein so sportliches Fahrzeug wie dieses, aber auf der anderen Seite auch wieder irgendwie passend, wenn man seinen Besitzer bedachte -, dann schloß er die Tür, legte den Gang ein und fuhr sehr vorsichtig los.

Ebenso vorsichtig bugsierte er den Wagen auf die Straße hinaus, wartete eine genügend große Lücke im fließenden Verkehr ab und gab dann etwas entschlossener Gas. Der Wagen gehorchte seinen Befehlen so präzise, als wäre er seit Jahren an keinen anderen Fahrer gewöhnt. Es dauerte tatsächlich nur einige Augenblicke, bis Bremers Nervosität sich bereits zu legen begann, und nur noch einige weitere Momente, bis er wirklich etwas von der Faszination zu spüren begann, die Sendig ihm gerade unterstellt hatte. Es war ein phantastischer Wagen. Um so weniger verstand er jetzt, warum Sendig ihn ihm anvertraut hatte und selbst mit dem Dienstwagen fuhr. Wenn sie zwei Wagen brauchten, warum hatte er dann nicht seinen eigenen PKW genommen und ihn, Bremer, mit dem Audi fahren lassen?

Aber eigentlich wußte er die Antwort auf diese Frage. Er hatte sie die ganze Zeit über gewußt, nur nicht richtig realisiert, aber das holte er nach, als er das nächste Mal in den Spiegel sah und den Wagen erblickte, der ihm folgte. Es war ein ganz normaler dunkelblauer BMW, wie es Hunderte, wenn nicht Tausende in der Stadt geben mußte, aber zwei Dinge daran waren doch seltsam: Er hatte abgedunkelte Scheiben, und er hatte ihn vorhin schon einmal gesehen, auf dem Parkplatz des Polizeipräsidiums.

19. Kapitel

Den ganzen Nachmittag über war er vermeintlich ziellos durch die Stadt geirrt. Er konnte nicht mehr sagen, wo er überall gewesen war und wie lange; und er wußte auch nicht, was er in dieser Zeit getan oder auch nur gedacht hatte. Hinter seiner Stirn herrschte ein einziges heilloses Chaos. Erst sehr viel später wurde ihm klar, daß es nicht der ganze Nachmittag gewesen war, sondern allenfalls zwei Stunden, und daß er auch nicht ziellos durch die Stadt gelaufen war, sondern ganz im Gegenteil höchst zielbewußt. Aber während er unterwegs war, war es, als bewege er sich durch eine fremde Welt. Alles kam ihm mit einem Male feindselig und aggressiv vor: Die Menschen, denen er begegnete, schienen ihn mißtrauisch zu belauern, die Geräusche waren zu schrill und zu laut, das Licht zu grell und zu hart, die Häuser, an denen er vorbeikam, erschienen ihm wie die Mauern eines gewaltigen, die ganze Welt umspannenden Labyrinthes, in dem er herumirrte wie eine Laborratte im Glaskasten, die einfach nicht begriff, daß es keinen Ausweg daraus gab.

Aber vielleicht war er ja auch nicht viel mehr. Für seinen Vater und Petri - genau wie für Löbach? - war er möglicherweise niemals mehr gewesen, ganz egal, wie oft sie das Gegenteil beteuerten: ein Experiment. Selbst einmal unterstellt, ihre Geschichte wäre die Wahrheit - was er keine Sekunde lang glaubte. Er gestattete sich nicht, sie zu glauben - selbst dann hätten sie kein Recht gehabt, ihm das anzutun. Sein Vater hatte behauptet, es nur seinetwegen getan zu haben, um seiner und seiner Mutter willen - lächerlich! Sie hatten kein Recht. Niemand hatte das Recht, so etwas zu tun. Sie hatten ihm sechs Jahre seines Lebens gestohlen - mehr noch: im Grunde sein ganzes Leben, denn sie hatten auch die Erinnerung an die Zeit davor fast vollkommen ausgelöscht, und es gab nichts, was das rechtfertigte. Er kam sich benutzt vor: auf die schlimmste vielleicht mögliche Art benutzt und manipuliert.