Und doch war das nicht einmal das Schlimmste. Dies waren die Gedanken und der Schmerz, die an der Oberfläche waren. Darunter wuchs noch etwas anderes heran - etwas noch immer Körperloses und Dunkles, das aus dem Verlies am Grunde seiner Seele gekrochen war und nun heraufwollte. Vielleicht war es nichts anderes als das Wissen, daß sein Vater doch die Wahrheit gesagt hatte. Oder die Angst.
Er hatte verzweifelt versucht, sich zu erinnern. An irgend etwas - Löbach, seine Tochter, die anderen, jene schicksalhafte Nacht, von der sein Vater gesprochen hatte, irgendeine Kleinigkeit, und sei sie noch so nebensächlich, die nicht in das Bild einer ganz normalen, ein wenig langweiligen Jugend paßte, das in seinem Gedächtnis war. Aber da war nichts. Mark verstand mit jeder Minute weniger, wieso es ihm in all den Jahren nicht selbst aufgefallen war, denn jetzt, wo sein Vater und Petri ihn darauf aufmerksam gemacht hatten, begriff er mehr und mehr, wie falsch das war, was er die ganze Zeit für seine Erinnerung gehalten hatte. Und es war nicht einmal eine sehr überzeugende Fälschung. Was in seinem Kopf war, war bloß Requisite: eine bunt angemalte Pappmache-Kulisse, die einer Betrachtung aus großer Entfernung standhalten mochte, aber nicht einmal das für lange Zeit. Dahinter war nichts. Es gab Lücken und dünne Stellen in dieser Kulisse, aber wenn er daran kratzte und die blasse Farbschicht entfernte, kam nur eine allumfassende Schwärze und Leere zum Vorschein. Die Erinnerungen an die Zeit vor seinem zwölften Geburtstag existierten nicht mehr. Petri hatte zwar behauptet, daß sie wiederkehren würden, aber Mark war nicht sicher. Da hätte irgend etwas sein müssen, das erwachen wollte. Irgend etwas, das er, wenn schon nicht erkannt, so doch gespürt hätte. Doch alles, was er am Grunde dieser schwarzen Leere fühlte, war das Ungeheuer der Furcht. Es lag dort unten wie ein Ding, das seine Vergangenheit gefressen hatte und nun vielleicht daranging, auch seine Gegenwart zu verschlingen.
Hinter ihm hupte ein Wagen. Mark, der in mäßigem Tempo auf dem Bürgersteig entlangschlenderte und einen guten Meter vom Straßenrand entfernt war, stellte keine Beziehung zwischen sich und diesem Hupen her und ignorierte es zuerst. Aber dann wiederholte es sich und dann noch einmal, und er drehte im Gehen den Kopf und sah sich suchend um. Auf der Straße herrschte nicht viel Verkehr, und so bemerkte er den silbergrauen Mercedes sofort, der im Schrittempo hinter ihm herrollte. Der Fahrer sah in seine Richtung. Mark konnte mit seinem Gesicht im ersten Moment nicht viel anfangen, aber das Hupen hatte ganz eindeutig ihm gegolten, denn erstens war er allein auf dem Gehweg, und zweitens hob der Mann im Mercedes in diesem Moment die Hand und machte eine eindeutige Bewegung.
Einen Moment lang spielte Mark mit dem Gedanken, einfach weiterzugehen. Er kannte so gut wie niemanden hier in Berlin, und allein der kostspielige Wagen, den der andere fuhr, legte den Verdacht nahe, daß es jemand war, den sein Vater geschickt hatte. Hatte er ihn die ganze Zeit beobachtet? Mark beantwortete seine Frage gleich selbst: nein. Dieser Wagen wäre ihm aufgefallen.
Der Fremde hupte zum dritten Mal, und Mark gab sich einen Ruck und trat mit raschen Schritten auf die Fahrbahn hinaus und um den Mercedes herum. Die Gesten des Fahrers waren eindeutig: Mark öffnete die Beifahrertür, ließ sich in den niedrigen Schalensitz fallen und erkannte endlich den Mann hinter dem Steuer.
Ungläubig riß er die Augen auf. »Sie?« Er konnte sich nicht an den Namen erinnern, aber es war eindeutig der Polizeibeamte von heute morgen. Mit seiner grünen Jacke und der weißen Mütze wirkte er in diesem Wagen vollkommen fehl am Platze, und obwohl er lächelte, sah er zugleich nicht so aus, als ob er sich hinter dem teuren Sportlenkrad besonders wohlfühlte.
»Guten Tag, Herr Sillmann«, begann der Beamte. »Erinnern Sie sich? Wir haben uns heute morgen kennengelernt. Soll ich Sie ein Stück mitnehmen?«
»Sie sind...?«
»Bremer«, antwortete der Polizist. Zugleich machte er klar, daß seine zweite Frage nur rhetorisch gewesen war, denn er fuhr bereits weiter, ohne Marks Antwort abzuwarten. Trotzdem sagte Mark: »Gern. Aber wohin fahren wir?«
»Zum St.-Eleonor-Stift«, antwortete Bremer. »Sie wollen doch dort hin, oder?«
Mark sah Bremer einen Moment lang verständnislos an, ehe er rechts und links aus den Fenstern blickte. Zum ersten Mal nahm er seine Umgebung wirklich bewußt wahr. Er erinnerte sich vage, eine Weile kreuz und quer mit der U-Bahn durch die Stadt gefahren zu sein, und er hatte geglaubt, die Züge vollkommen willkürlich gewählt zu haben. Offenbar war das ein Irrtum gewesen. Er befand sich auf dem Weg zur Klinik.
»Verfolgen Sie mich?« fragte er mißtrauisch.
Bremer fuhr ein wenig schneller und sah wie beiläufig in den Rückspiegel. Obwohl der Motor kaum hörbar lauter wurde, sah Mark doch, daß sie viel zu schnell fuhren. Die Tachonadel näherte sich der Achtzig.
»Hätte ich denn Grund dazu?« fragte Bremer.
Mark verzog ärgerlich das Gesicht und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. »Ich glaube, ich steige hier besser aus«, sagte er.
»Nicht doch.« Bremer machte eine beruhigende Geste. »Nein. Ich verfolge Sie nicht. Aber wir haben den gleichen Weg - warum sollte ich Sie nicht mitnehmen?«
Es klang so sehr nach einer Ausrede, dachte Mark, daß es schon wieder überzeugend war. Beinahe wenigstens.
»Hat die Polizei jetzt neue Dienstfahrzeuge?« fragte er.
Bremer nickte. »Ja, es war auch an der Zeit, daß man uns angemessen ausstattet.« Er lachte. »Nein - das ist kein Dienstwagen. Ich... überführe ihn nur, sozusagen.«
»Aha«, sagte Mark. »Und dabei haben Sie zufällig den gleichen Weg wie ich?«
Bremer maß ihn mit einem nachdenklichen, aber auch ganz leicht spöttischen Blick. »Wenn ich Sie beschatten würde, Mark, würden Sie es nicht merken«, sagte er. »Ich würde es zum Beispiel nicht mit diesem Wagen tun. Daß wir uns getroffen haben, ist wirklich Zufall.«
»Und eine praktische Gelegenheit, allein mit mir zu reden, nicht wahr?« fügte Mark hinzu.
»Dazu besteht kein Anlaß«, behauptete Bremer.
»Was haben Sie heute morgen bei uns gewollt?« fragte Mark.
Bremer zuckte mit den Schultern. »Routine. Wir sind verpflichtet, gewisse Untersuchungen anzustellen bei einem Selbstmord.«
»Routine?« wiederholte Mark. »Ihr Kollege, dieser Sendig - er ist ein ziemlich hohes Tier, nicht?«
»Eines der höchsten sogar«, bestätigte Bremer. »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Ich glaube, er hat Löbach gekannt. Kannten Sie ihn?«
»Er arbeitete länger für die Firma meines Vaters, als ich lebe«, erinnerte sich Mark. Er sah Bremer aufmerksam und mit neu erwachendem Mißtrauen an. War das nun Konversation oder vielleicht doch das, was der Polizeibeamte gerade so überzeugend abgestritten hatte: ein Verhör?
»Ihr Vater und er waren Freunde, nicht?« Bremer sah wieder in der. Rückspiegel und gab noch mehr Gas. Sie fuhren jetzt fast hundert.
»Ja«, antwortete Mark. »Nein. Früher einmal... glaube ich.«
Bremer sagte nichts dazu, aber sein Gesichtsausdruck war beredt genug, und nach einigen Sekunden rettete sich Mark in ein Achselzucken. »Ich habe in letzter Zeit nicht mehr sehr viel von dem mitbekommen, was in der Firma vorgeht. Warum fahren Sie eigentlich so schnell?«