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»Zum Beispiel.«

»Ein Einbruch mehr oder weniger.« Sendig zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem Bücherregal zu. »Ich glaube nicht, daß es darauf ankommt. Nehmen Sie sich den Schrank vor, okay?«

Bremer schluckte die zornige Entgegnung herunter, die ihm auf der Zunge lag. Es war nicht Sendigs Schuld. Er war gereizt, sehr viel mehr, als er zugeben wollte, und er kam sich tatsächlich wie ein Einbrecher vor. Rein juristisch betrachtet waren sie das auch - sie hatten weder einen Durchsuchungsbefehl noch irgendeinen zwingenden Grund, diese Wohnung zu durchsuchen. Artner war tot, aber zu sterben war in diesem Land noch nicht strafbar. Was sie taten, hatte etwas von Leichenfledderei an sich, fand er.

Verrückt. Bremer verstand sich selbst nicht mehr. Solche Gedanken waren ihm eigentlich fremd. Aber seit seinem unheimlichen Erlebnis im Wagen hatte er sich noch immer nicht richtig beruhigt. Natürlich war es nur eine Sinnestäuschung gewesen, und trotzdem... Etwas daran war so realistisch gewesen, daß ihm noch immer ein eisiger Schauer über den Rücken lief, wenn er daran zurückdachte. Und den größten Fehler hatte er anschließend begangen: Er hatte Sendig auf dem Weg hier herauf erzählt, was er für einen Moment im Spiegel zu sehen geglaubt hatte. Und auf dem Foto.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Sendig in diesem Moment noch einmaclass="underline" »Ein Engel? Sie sind sicher, daß Sie einen Engel gesehen haben?«

Diesmal konnte Bremer nicht mehr so tun, als hätte er die Frage überhört. »Ich habe überhaupt nichts gesehen«, antwortete er, ohne sich zu Sendig herumzudrehen. »Wahrscheinlich war es nur ein Lichtreflex. Irgendein Schatten.«

»Da wäre ich nicht so sicher«, sagte Sendig. Irgend etwas klapperte zu Boden, aber Bremer widerstand weiter tapfer der Versuchung, sich zu ihm herumzudrehen. Statt dessen öffnete er eine weitere Schublade des wuchtigen altdeutschen Schrankes und untersuchte ihren Inhalt. Er unterschied sich nicht von dem der beiden, die er bereits durchgesehen harte: Zeitschriften, irgendwelche Papiere voller wissenschaftlicher Fachausdrücke, die genausogut in Chinesisch geschrieben sein könnten, ein paar Akten, deren Stempel verriet, daß sie aus der Klinik stammten. Bremer öffnete sie alle, aber er mußte sie nicht durchblättern. Jede einzelne enthielt auf der ersten Seite ein Farbfoto desjenigen, dessen Krankengeschichte sie behandelte.

»Glauben Sie an Engel?« fragte Sendig, als er auch nach einer Weile keine Antwort bekam.

»Natürlich«, antwortete Bremer. »Genauso wie an den Osterhasen, den Weihnachtsmann und ehrliche Politiker.«

Sendig lachte pflichtschuldig, aber er schien Gefallen an dem Thema gefunden zu haben, denn er ließ auch jetzt nur einige Sekunden verstreichen, ehe er fortfuhr: »Sie sollten solche Dinge nicht auf die leichte Schulter nehmen, Bremer. Das meiste von dem, was wir für bloße Einbildung oder Halluzination halten, hat eine tiefere Bedeutung. Manchmal sind es Botschaften, die uns unser Unterbewußtsein schickt. Nur verstehen wir sie nicht immer gleich.«

Irgendwann, dachte Bremer, würde seine rechte Faust Sendig eine Botschaft schicken, und zwar eine, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Und dieser Tag war vielleicht gar nicht mehr so fern. Er schwieg weiter, aber Sendig verstand die Bedeutung dieses Schweigens entweder nicht, oder er ignorierte sie, denn er plapperte fröhlich weiter.

»Außerdem sollte man mit solchen Dingen nicht scherzen. Sie wären erstaunt, wenn Sie -«

»Sendig, hören Sie auf!« sagte Bremer. »Ich habe heute einfach keinen Nerv mehr für Geschichten.«

Zu seinem eigenen Erstaunen hielt Sendig tatsächlich inne, als er ihn vorwurfsvoll ansah. Nach ein paar Sekunden drehte er sich herum und sah den Kommissar an. »Entschuldigung. Ich wollte nicht unhöflich sein.«

»Geschenkt.« Sendig machte eine großmütige Geste, dann grinste er. »Ich weiß, daß ich manchen Leuten mit meinem Gerede auf die Nerven gehe. Das muß mein afrikanisches Blut sein. Einer meiner Urururgroßväter war Ägypter - angeblich mit einer Ahnenreihe, die bis in die Zeit der Pharaonen zurückreicht. Wußten Sie, daß die alten Ägypter das schwatzhafteste Volk waren, das man sich nur vorstellen kann?«

»Wenn man Sie so hört, könnte man es beinahe glauben«, sagte Bremer. Seine Entschuldigung tat ihm bereits wieder leid. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, Sendig kräftig genug vor den Kopf zu stoßen, daß er wenigstens für ein paar Stunden beleidigt die Klappe hielt.

Mit dieser Bemerkung jedenfalls war es ihm nicht gelungen, denn Sendig lachte nur. »Irgend etwas muß wohl dran sein, ja. Haben Sie was gefunden?«

Wieder brauchte Bremer fast eine Sekunde, um die Frage überhaupt dem Thema zuzuordnen, zu dem sie gehörte. Sendigs Verhalten verwirrte ihn zunehmend. Er mußte entweder betrunken sein - oder so nervös, daß er halb hysterisch wurde. Warum? »Gefunden? Ich weiß ja nicht einmal, wonach wir suchen.«

»Ich auch nicht«, gestand Sendig. »Aber das macht die Geschichte ja gerade spannend.« Er seufzte. »Aber jetzt mal im Ernst: Daß Sie ausgerechnet einen Engel gesehen haben wollen, ist schon ein ziemlicher Zufall, finden Sie nicht?«

Bremer zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder herum. »Suchen wir weiter. Irgend etwas werden wir schon finden.«

»Ja«, stöhnte Sendig. »Wissenschaftliche Fachbücher. Mein Gott, ich habe nie so viel gelehrtes Zeug auf einmal gesehen!«

»Was haben Sie erwartet?« fragte Bremer, während er sich der nächsten Schublade zuwandte. Auch sie enthielt eine Anzahl Patientenakten. Artner mußte ein Workaholic gewesen sein, und zwar im schlimmsten Stadium. »Der Mann war Wissenschaftler.«

»Aber er muß doch noch irgendwelche anderen Interessen gehabt haben!« beschwerte sich Sendig. »So etwas ist doch nicht normal. Ich meine - jeder Mensch hat schließlich irgendein Hobby.«

»Wahrscheinlich war Artners Hobby sein Beruf.« Bremer schloß die Schublade und wandte sich den Türen darüber zu. »Auf jeden Fall scheint er sich jede Menge Arbeit mit nach Hause genommen zu haben.«

»Hätte ich an seiner Stelle auch getan«, witzelte Sendig. »Vielleicht einen besonders interessanten Fall. Jung, hübsch, mit blonden Haaren und - he, was ist denn das?«

»Was haben Sie?«

»Schauen Sie, hier!« Sendig deutete auf das Bücherregal, dessen Inhalt er auf dem Boden verstreut hatte. Bremer trat neugierig näher, aber er mußte zweimal hinsehen, um den winzigen Spalt zu entdecken, der sich zwischen der Rückwand und dem nächstoberen Brett befand.

»Wenn das kein Geheimfach ist!« Sendig drückte mit gespreizten Fingern gegen das Brett. Ein leises Klicken erscholl, und einen Augenblick später glitt die ganze Rückwand nach oben. Dahinter kam ein zweites, schmaleres Regal zum Vorschein, das allerdings keine Bücher enthielt, sondern ein gutes Dutzend Cassetten in einem durchsichtigen Plastikständer.

»Hoppla!« Sendig stieß einen anerkennenden Pfiff aus, beugte sich vor und verrenkte sich fast den Hals, um in den Spalt über dem Regalbrett zu blicken. »Ein Federmechanismus!« sagte er. »Wie's aussieht, selbst gebaut. Gar nicht unclever, für einen versponnenen Professor! Hätte ich ihm nicht zugetraut.«

Bremer wußte noch nicht einmal genau, was sie da entdeckt hatten, aber das hinderte ihn nicht daran, schon wieder einen leisen Ärger zu empfinden. Eigentlich hätte es ihm klar sein müssen, daß, falls es hier etwas zu finden gab, es Sendig war, der es fand, und nicht er.

Sendig arbeitete sich wieder aus dem Regal heraus und trat einen halben Schritt zurück. Nachdenklich betrachtete er die Cassetten. Sie waren mit weißen Aufklebern versehen, aber nicht beschriftet. Bremer bemerkte erst beim dritten Hinsehen, daß es keine Audiocassetten waren, wie er im ersten Moment angenommen hatte. Die Größe stimmte, aber sie waren zu dick.