»Nun, er ist jung, rebellisch, aber er ist nicht bösartig. Ich würde ihn ins Geschäft aufnehmen, wenn er meine Tochter heiraten würde. Natürlich ist es leicht für mich, Ratschläge zu erteilen, Pearlie, ich habe keine Tochter.«
»Das kommt noch«, versicherte Pearlie seinem Schwager, den er lieben gelernt hatte. Er wußte, dies war ein heikles Thema. »Da ist was dran. Wenn ich ihn ins Geschäft reinnehme, angenommen, sie heiraten, kann ich ihn im Auge behalten. Ich glaube nicht, daß sich irgend jemand groß um den Jungen gekümmert hat.«
»Wohl nicht.«
Die Familie Bitters vermehrte sich wie die Karnickel und überließ die Kinder dann ihrem Schicksal.
Der Tanz war zu Ende, und Extra Billy geleitete Louise an den Tisch zurück. Er verbeugte sich vor ihr und ging.
»Alle Achtung«, bemerkte Pearlie.
Darum bemüht, sittsam und pikiert zu klingen, sagte Wheezie: »Ich mußte mit ihm tanzen.«
»Ich bin froh, daß du's getan hast, Schatz.« Pearlie hieß ihren Entschluß gut und stellte insgeheim fest, daß sie ausgesprochen jugendlich wirkte.
Walter Falkenroth trat zu ihnen. »Paul, ich will Ihre Frau«, scherzte er.
»Sie ist sehr begehrt.« Pearlie lächelte, als Louise schnell einen Schluck Sodawasser trank und Walter auf den Tanzboden folgte.
Paul kehrte zu Chessy zurück. »Extra Billy war so vernünftig, meine Frau zum Tanzen aufzufordern. Er ist vielleicht doch klüger, als ich dachte.«
»Tja.« Chessy lächelte.
17
Ein kalter, dichter Nebel legte sich auf ihre Wangen. Der Scheinwerfer der Lokomotive glühte diffus in der silbrigen Feuchtigkeit und zog vorbei, gefolgt von den dunkelgrünen stromlinienförmigen Pullmanwagen, die am Bahnsteig hielten.
Doak Garten, der junge Gepäckträger, wartete abseits. Auf seinem Karren türmten sich Ramelles kostspielige Koffer. Dieser Zug brachte sie nach Washington D.C. wo sie in einen anderen Zug umsteigen würde, der sich durch den Süden schlängelte. In New Orleans blieben ihr ein paar Stunden Zeit, um bei Kaffee und Jazz zu verweilen. Das üppige Grün des Südens würde dem Braun, Senfgelb und Ziegelrot des Südwestens weichen. Ziel der Reise war Los Angeles, das träge zwischen den San Gabriel Mountains und dem Pazifischen Ozean ruhte.
»Ich schreibe dir jeden Tag.« Ramelle küßte Celeste.
»Alles einsteigen!«
Trotz der hohen Stufen sprang Ramelle leichtfüßig hinauf und beugte sich dann für einen weiteren Kuß herunter. Doak reichte dem Schaffner ihr Gepäck hinauf, sein eckiges Käppi saß schräg auf dem Kopf.
Sie fand ihr Abteil und setzte sich ans Fenster, die behandschuhte Hand zum Abschied erhoben. Als das Treppchen in den Zug gehievt wurde und der Schaffner dem Lokomotivführer ein Zeichen gab, drückte sie ihre Lippen an die Fensterscheibe, ein letzter Kuß.
Celeste winkte zurück, dann fuhr der Zug an. Sie blieb stehen und sah den roten Schlußlichtern nach, bis sie in dem sich verdichtenden silbrigen Nebel verschwanden. Ein langes, wehmütiges Pfeifsignal entbot das letzte Lebewohl.
Um sieben Uhr morgens betrug die Temperatur um die fünf Grad. Schaudernd schob Celeste die behandschuhten Hände in die Taschen ihrer Norfolkjacke.
Sie ging in die blitzsaubere Bahnhofshalle. »Doak, fast hätte ich vergessen, was sich gehört.« Sie fand ihn hinter dem Schalterfenster. »Wo ist Nestor?« Sie erkundigte sich nach dem Fahrkartenverkäufer, Stationsvorsteher, Hausmeister und Mann für alles.
»Doughnuts holen. Ohne ihn könnte Yost den Laden dicht machen.«
Sie schob diskret einen zusammengefalteten Zwanzigdollarschein unter das Fenster. »Das wird wieder ein kalter Tag.«
»Dann dauert der Frühling länger.« Er schob den Geldschein wieder zurück. »Miz Chalfonte, das ist zu viel.«
»Ein Ausgleich für die Male, da ich vergessen habe, Sie zu bezahlen.«
»Sie vergessen nie, mich zu bezahlen, Miz Chalfonte. Sie vergessen niemanden, der Ihnen je einen Gefallen getan hat.«
»Dann bringen Sie es auf die Bank. Damit die Kassierer was zu tun haben.«
Er wußte, daß es sinnlos war, ihr zu widersprechen. »Ja, Ma'am, und verbindlichsten Dank.«
Walter Falkenroth eilte herein. Celeste trat beiseite, nachdem sie hastig Höflichkeiten ausgetauscht hatten. »Bis dahin, Doak.«
Sie ging nach draußen. Die alte Patience Horney, verwirrt und zwei Jahre älter als Gott, hockte mit ihren heißen Brezeln und einem kleinen Glas Senf am Eingang.
Celeste kaufte eine Brezel, aus demselben Grund, aus dem es alle taten: Um Patience Geld zu geben und weil sie gut waren, wenngleich Celeste zu dieser frühen Stunde keine Lust darauf verspürte.
»Celeste, meine Liebe, ich muß Ihnen sagen, daß Brutus Rife Sie noch immer liebt. Er wird nie über Sie hinweg kommen.« Patience wandte Celeste ihr gesundes Auge zu; das andere war milchig.
Sie sprach von einem Mann, der seit einundzwanzig Jahren tot war.
»Das wird er wohl müssen.« Celeste lächelte.
»Sie sind die schönste Frau, die Runnymede je gesehen hat. Viele sagen, Sie sind die schönste Frau, die Maryland je gesehen hat.«
»Sie sind sehr freundlich, Patience.« Celeste brachte es nicht über sich, Patience zu sagen, daß sie Anfang sechzig war; Patience selbst mußte auf die achtzig zugehen.
»Wünschte, ich war schön auf die Welt gekommen.« Ihr zahnloser Mund verzerrte sich zu einem hohlen Lächeln.
»Sie sind schön, Patience.« Celeste drückte ihr Geld in die behandschuhte Hand. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.«
»Ja, Ma'am, ja, Ma'am. Grüßen Sie den Major von mir.« Sie erinnerte sich an Celestes Vater.
»Mache ich, Patience.«
Celeste ging zu dem kleinen Parkplatz. In ihrer Jugend hatte sie unentwegt gelesen. Sie hatte Antworten gesucht. Auf eine ihrer Fragen hatte sie die Antwort nie gefunden: warum Patience am Bahnhof saß.
Einen schmerzlichen Augenblick lang dachte sie, sie würde in Tränen ausbrechen. Das Leid der Welt überspülte sie, oder war es Ramelles Abreise? Sie wußte es nicht. War es der Gedanke, daß Doak und die anderen jungen Männer demnächst von dem monströsen Übel jenseits des Atlantiks aufgesaugt würden, oder gab es zu Hause Übel genug? Waren Al Capone und Pretty Boy Floyd Miniaturausgaben von Hitler und Mussolini?
Sie schnupperte. Der erste zarte Fliederduft lag in der Luft. Die Blüten blieben geschlossen, dennoch verströmten sie die unverkennbare Süße.
Sie fühlte sich jung. Ihr Alter spürte sie nicht, wenn sie von den Erinnerungen der Jahrzehnte absah. Der Schmerz wäre mit zwanzig derselbe gewesen. Emotionen werden nicht alt.
Sie fragte sich, ob sie eine Affäre brauchte, eine letzte Eskapade, eine diskrete Eroberung.Ein letztes Streben. Streben heißt Erobern, dachte sie, während ihre Hand den verchromten Türgriff faßte.Wonach streben, was könnte besitzenswert sein, und wenn du es findest, werden andere zu dir kommen. Streben ist unvereinbar mit Gewinn. Sie öffnete den Wagenschlag des Packard und rutschte auf den Sitz, legte die Hände ans Lenkrad und starrte auf die Bahngleise.Nun - was ist in mir? Sie roch die frische heiße Brezel und schnappte sie vom Sitz, wobei das dünne Wachspapier knisterte.
Sie biß hinein, kaute, sagte laut »eine heiße Brezel« und brach in Lachen aus.
18
Lange goldene Schatten wälzten sich über den Runnymede Square. Auf der Südseite des Platzes ließ das flackernde Licht die Gesichter der Statue mit den drei konföderierten Soldaten lebendig werden. Einer schoß mit seinem Gewehr, der zweite trug die Standarte, und der dritte ging verwundet in die Knie. Der Standartenträger griff dem Verletzten mit einer Hand unter die Achsel und versuchte, ihn auf den Beinen zu halten. Hinter ihnen ragte die Kanone in die Höhe, ihr Lauf war auf das BonTon-Kaufhaus an der Ecke Hanover Street auf der Yankee-Seite des Platzes gerichtet.