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Das vermehrte Sonnenlicht auf der Sommerseite der Tagund­nachtgleiche verlängerte die Tage und verlieh ihnen eine von Gelächter durchsetzte Melancholie, je mehr Menschen sich im Freien aufhielten. Der Hartriegel, dessen mintgrüne Knospen bald zu einer Fülle von Weiß oder Rosa aufbrechen würden, sprenkelte den schönen Platz, der vor dem amerikanischen Un­abhängigkeitskrieg angelegt und bepflanzt worden war.

Die korinthischen Säulen des Bankgebäudes an der Südwest­ecke des Platzes erhoben sich in imposantem glänzendem Blau­weiß. Geldinstitute, von Würde und dem alten lateinischen Wortgravitas gekrönt, machten den Kirchen in puncto Heilig­keit Konkurrenz.

Als Chessy von dem übermütigen Buster begleitet über den Platz ging, schlossen die Menschen, die er fast schon sein Le­ben lang kannte, ihre Geschäfte, kurbelten bunte Markisen hoch, sperrten Türen ab. Der Gemüsehändler ließ jeden Diens­tagabend draußen auf den Ständen überreife Apfelsinen, Äpfel und Birnen für die Armen stehen. Mittwochmorgen würde eine frische Lieferung eintreffen.

Ein ununterbrochener Menschenstrom zog zu Cadwalder, auf einen Hamburger oder ein Sodawasser. Manche warteten auf die erste Kinovorstellung ein Stück weiter die Straße hinunter. Junge Männer mit pfirsichfarbenem Flaum auf den Wangen boten Mädchen an, ihnen die Bücher nach Hause zu tragen.

Chessy hatte sein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht, nahezu sechsunddreißig Jahre. Das Netz miteinander verwobe­ner Leben und Generationen glitzerte golden im Sonnenunter­gang. Je älter er wurde, desto intensiver fühlte er die Bande zwischen den Menschen.

Chester Rupert Smith dachte viel und sprach wenig, eine Ge­wohnheit, die er sich früh angeeignet hatte in einem Haus, in dem Josephine Smith zu jeder Stunde hoheitlich waltete. Sein mittlerer Bruder Joseph sah aus und gebärdete sich wie die Mut­ter, despotisch und wortreich. Stanford, der jüngste Bruder, besaß Ehrgeiz, war dabei aber nicht verbissen.

Sein Leben lang hatte Chessy unter der Last des Vorwurfs zu tragen gehabt, er besitze keinen Ehrgeiz und hätte seine Intelli­genz besser nutzen sollen. Sammeln und säckeln konnte er nichts abgewinnen. Er betrachtete sein Leben als unaufhörli­chen Reichtum. Er war nicht abgeneigt, diesen Reichtum zu teilen, doch er glaubte nicht, daß irgend jemand davon hören wollte.

Kein Tag, an dem er nicht eine neue Idee oder Erkenntnis hat­te. Daß nichts davon kommerziell verwertbar war, erschien ihm nicht verwerflich. Er hatte sich daran gewöhnt, seine Mutter und seine Frau zu enttäuschen; Juts hatte genug Elan für zwei. Aber sich selbst enttäuschte er nicht. Er war zufrieden, das Le­ben in seiner ganzen Schäbigkeit und Pracht sich entfalten zu sehen.

Junior McGrail, die aussah wie ein aufgedonnertes Faultier, stand mit ihrer Freundin Caesura Frothingham am Sockel der Statue von George Gordon Meade.

»Guten Abend, die Damen.« Chester tippte an seinen Hut.

»Guten Abend, Chester«, antworteten sie.

»George sieht schon viel besser aus, finden Sie nicht?« Er lä­chelte.

»Wir haben gesehen, wie Sie, Harmon, Extra Billy und seine nichtsnutzigen Freunde gestern Abend General Meade aufge­richtet haben. Was ist unserem glorreichen Helden wirklich zugestoßen?« Caesura fand alles glorreich, was in einer Uni­onsuniform steckte. Das schuf Probleme.

»Vielleicht hat er zu viel getrunken.«

Caesura kniff die Lippen zusammen. »General Meade, nie­mals.«

»Na ja, jetzt ist es ohnehin zu spät für den alten Knaben.«

»Sie wissen, was passiert ist«, sagte Junior. Ihre winzige Yorkshire-Terrier-Hündin zog an der Leine und wollte zu Bu­ster, der mit seinem Stummelschwanz wedelte.

»Sobald diese Ecke des Sockels repariert ist, ist alles wieder in Ordnung, also spielt es keine Rolle, was passiert ist.«

»Sie sollten ein Wörtchen mit den Trumbulls reden, Chester. Es wird böse enden, wenn Extra Billy weiter um Mary herum­scharwenzelt.«

»Junior, das geht mich nichts an.« Er schob die Hände in die Taschen, klimperte mit dem Kleingeld. »Meine Damen, genie­ßen Sie diesen milden Abend. Ich habe eine Verabredung.« Er tippte wieder an seinen Hut.

Als er fortging, flüsterte Caesura: »Was kann man auch von Mary Trumbull erwarten? Sie wohnt in einem Haus mit bemal­ten Plastiken eindeutigen anatomischen Charakters!«

Junior pflichtete ihr bei. »Mmm. Etwas stimmt da nicht. Es gleicht dem Leben in einer Lasterhöhle. Pearlies Kunst lenkt auf höchst bedenkliche Weise die Aufmerksamkeit auf den weibli­chen Busen.«

Das Duo kreischte vor Lachen.

Chessy schlängelte sich zwischen dem Verkaufspersonal hin­durch, das aus dem Bon-Ton strömte. So klein die Stadt war, das Bon-Ton machte guten Umsatz, weil man bis Baltimore eine Stunde nach Südosten auf holprigen Straßen brauchte, bis Hagerstown eine Stunde nach Westen und bis York fünfund­vierzig Minuten nach Nordosten. Gettysburg, das nur zwanzig Minuten entfernt lag, war ein einziges Schlachtfeld - keine Einkaufsmöglichkeit außer einem florierenden Markt für ge­brauchte Munition.

Vier Häuser vom Bon-Ton entfernt, auf der Westseite der Ha­nover Street, stand das 1872 erbaute Rogers-Haus. Die erste Etage beherbergte die neue Tanzschule, und auf eines der Fen­ster zur Straße hinaus waren ein Zylinderhut und ein Spazier­stock gemalt. Chessy öffnete die Tür und stieg die kastanien­braun gestrichenen Treppenstufen hinauf, Buster tollte ihm voraus. Trudy Archer stand oben an der Treppe. »Mr. Smith, ich freue mich, Sie zu sehen. Kommen Sie herein. Wer ist das denn?«

»Buster.«

»Schön, Buster bekommt auch eine Gratisstunde.«

Als Chessy durch die Tür trat, fiel ihm als Erstes der schöne Ahornfußboden auf. »Ich hatte keine Ahnung, daß es den hier oben gibt.«

»Ich auch nicht, bis ich alle Farbe herunter hatte. Ich hatte Ei­che erwartet.« Sie setzte die Grammophonnadel auf die glän­zende schwarze Schallplatte. Ein Cole-Porter-Song erklang im Raum. »Sind Sie bereit?«

Er schluckte. »Natürlich.«

Buster saß mit schief gelegtem Kopf da und beobachtete sein Herrchen, das versuchte, mit verschiedenen Tanzschritten ein Karree zu beschreiben.

»Eins, zwei drei, eins zwei drei.« Sie lächelte ihn an. »Haben Sie das schon mal gemacht?«

»Nein, noch nie.«

Als die Platte zu Ende war, legte sie eine andere auf, dann nahm sie Busters Vorderpfoten und hüpfte ein paar Schritte mit dem Terrier herum. »Sehr gut, Buster.«

Chessy lachte.

Trudy übte eine Stunde mit Chessy, und er vollführte sogar einen Gleitschritt. Obwohl steif und unsicher, war er nicht so ungelenk, wie er gedacht hatte.

Am Ende der Stunde tätschelte Trudy Busters Kopf und dank­te Chester für sein Kommen.

Sie lächelte. »Wenn Sie auf die Musik hören, sagt sie Ihnen alles, was Sie wissen müssen.«

»Sie sind eine prima Lehrerin.« Er hielt seinen guten Borsali­no in der Hand. »Wissen Sie, ich würde es wirklich gerne ler­nen. Ich möchte Juts überraschen. Ist der Unterricht teuer?«

»Fünf Dollar im Monat für eine Privatstunde in der Woche. Gruppenstunden gibt es natürlich billiger, aber ich fürchte, dann würde es Ihrer Frau zu Ohren kommen und Ihnen die Überra­schung verderben.« »Kann ich es einen Monat versuchen? Wir machen es Schritt für Schritt.«

Sie lächelte über sein Wortspiel. »Abgemacht.«

Er langte in seine Tasche und gab ihr fünf Dollar in Münzen. Es war viel Geld, doch es hatte ihn gepackt. Er konnte tanzen.

Als er auf die Straße hinausschlenderte, dachte er, wie wun­derbar es war, sich nach Musik zu bewegen, und wie rein, neu und strahlend Trudy Archer wirkte.