Louise schoß vom Sofa auf, blieb am Fuß der Treppe stehen und knipste das Licht an. Oben war niemand. »Mary, ich kenne deine Stimme.«
»Sie schläft«, rief Maizie.
»Sei still«, flüsterte Mary.
»Mary, ich bin nicht von gestern.«
»Das wissen wir«, rief Juts aus dem Wohnzimmer.
Das brachte Chessy und Pearlie zum Lachen. Dann fingen die Mädchen in Marys Zimmer, wo sie sich versteckt hatten, zu kichern an.
Louises Schmollen löste sich in Glucksen auf. Dann warf sie den Kopf zurück und lachte schallend.
»Mom«, rief Maizie, »ich hab Hunger.«
»Es ist zehn Uhr abends.«
»He, laßt uns Eis mit heißer Karamellsoße essen. Ich habe jede Menge Erdnüsse zu Hause«, schlug Juts vor.
»Ich habe auch Erdnüsse«, sagte Louise.
»Mom -bitte.« Maizies Flehen klang so süß klagend.
»Na gut.«
Julia machte die Soße heiß, Paul teilte das Eis aus, und Mary deckte mit Maizies Hilfe den Tisch. Chester öffnete eine Büchse Nußmischung.
»Man hat mich betrogen.«
Paul drehte sich zu Chessy um. »Hm?«
»In meiner Nußmischung waren nur Erdnüsse.«
»Weil du mit einer verrückten Nuß zusammenlebst«, verkündete Louise. »Sie pickt sich alles raus bis auf die Erdnüsse. Ich verstecke meine Nußmischungen, damit sie sie nicht findet.«
Chester wandte sich scheinbar arglos an Julia Ellen.
»Schatz, tust du das wirklich?« Er rückte dicht hinter sie und koste ihren Hals. »Ich dachte immer, ich könnte auf dich zählen.«
»Das Einzige, worauf du dieser Tage zählen kannst, sind deine Finger.« Juts steckte ihm eine dicke Paranuß in den Mund.
22
»Ich dachte, er wäre tot.« Sie hob die Stimme. »Er sollte tot sein.«
Erschrocken über die Heftigkeit seiner Mutter, hängte Chester seinen Hut nicht an den Hutständer. Er wollte nur kurz bleiben. Er konnte es nicht ausstehen, wenn seine Mutter murrte. Er hatte vor Jahren erkannt, daß er sie liebte, aber nicht leiden konnte.
Josephine fuhr fort: »Als du diese Göre geheiratet hast, habe ich dir gesagt, daß sie niemals einen Fuß in dieses Haus setzen wird. Keine Brut von Hansford Hunsenmeir wird je durch meine Tür treten.« Sie holte Atem. »Und jetzt ist er wieder da. Man hätte meinen sollen, daß er schlau genug sei, zu bleiben, wo er ist.«
»Vielleicht ist er nach Hause gekommen, um zu sterben.«
»Und zwar bald, hoffe ich.«
Chester hatte seine Mutter mit der Neuigkeit überrascht. Er wußte, daß sie die Hunsenmeirs nicht ausstehen konnte, aber jetzt zeigte sie mehr Emotionen, als er seit der Verkündung seiner Verlobung bei ihr erlebt hatte.
»Mutter, da ich nicht weiß, warum du ihn haßt, kann ich dir nicht folgen.«
»Er hat mich beleidigt, mehr brauchst du nicht zu wissen. Dein Platz ist bei mir.«
»Was hat er getan?«
»Das geht dich nichts an!«, brauste sie auf.
»Was immer er getan hat, warum bist du wütend auf Cora, Juts und Louise?«, erwiderte er folgerichtig - ein Fehler.
»Weil mir danach ist! Cora Zepp hat sich Hansford an den Hals geworfen. Es war widerwärtig.«
»Das muß eine ganze Weile her sein.« Er drehte seine Hutkrempe zwischen Daumen und Zeigefinger.
»Für mich nicht.«
»Mutter« - er versuchte, sie zu besänftigen - »ich hoffe, daß mein Gedächtnis so scharf ist wie deins, wenn ich in dein Alter komme.« »Die Erinnerung ist alles. Sie ist dein ganzes Leben.«
»Das mag wohl sein, aber ist dir nie aufgefallen, wie jemand - sagen wir Dad - sich an etwas erinnert, was du ganz anders im Gedächtnis hast?«
Sie starrte ihn mit ihren stahlgrauen Augen an. »Dein Vater würde seinen Kopf vergessen, wenn er nicht fest auf seinem Hals säße.«
Da sie ihn absichtlich falsch verstanden hatte, zuckte ein unfreiwilliges Lächeln um Chesters Mund. Er setzte seinen Hut wieder auf. »Es tut mir Leid, wenn ich dich aufgeregt habe. Ich fand, du solltest Bescheid wissen, bevor es dir jemand auf der Straße erzählt.«
»Wo gehst du hin?« Ein Anflug von Unruhe zuckte über ihr Gesicht.
»Zurück ins Geschäft.« Er öffnete die Hintertür. »Bis dann, Mutter.«
»Chester.«
»Was?«
»Wie sah er aus?«
»Ah - alt. Das Atmen fällt ihm schwer.«
»Cora war bestimmt erschüttert.«
»Das kann man wohl sagen. Er hat geweint, als er sie sah.«
»Ich hoffe, er erstickt.«
»Bis demnächst.« Chessy schloß die Tür hinter sich.
Josephine starrte auf die hübsche Tischdecke auf dem Küchentisch, deren abgerundete Ecken mit Seidengarn bestickt waren. Eine blaue Salz-und-Pfeffer-Garnitur und eine Zuckerschale zierten die Mitte.
Sie riß an der Ecke der Tischdecke, Streuer und Schale krachten auf den Boden.
23
In den darauf folgenden Monaten nannten weder Julia noch Louise Hansford Hunsenmeir>Vater<, doch sie bemühten sich, höflich zu sein. Nach und nach entdeckten sie liebenswerte Züge an ihm. Zum Beispiel sagte er ihnen nicht, was sie zu tun hatten.
Bislang hatte er keine Erklärung für seine vierunddreißigjährige Abwesenheit geliefert. Er sprach wenig, weil ihm das Atmen schwer fiel, wenngleich er sich dank Coras Fürsorge etwas erholt hatte.
DasCurl 'n' Twirl war der Treffpunkt schlechthin. Zwar verstanden Juts und Louise nicht das Geringste vom Haare schneiden, aber dafür hatten sie ja Toots. Louise und Juts konnten Fingernägel lackieren, unaufhörlich klatschen und die Leute zum Lachen bringen. Sie zettelten sogar eine Wasserschlacht an, während sie Lillian Yost die Haare wuschen, und statt in Wut zu geraten, füllte Lillian, sobald ihre Frisur fertig war, einen Becher voll Wasser und kippte ihn Julia über den Kopf.
An einer Wand hing eine große Tafel mit vielen bunten Kreiden in der Holzablage. Paul hatte kunstvoll>Klatschzentrale< an den oberen Rand gemalt. Jeder konnte hereinschauen und hinschreiben, was sich ereignet hatte - etwa daß Wheezie einen Schluck aus dem Gartenschlauch genommen und einen Tausendfüßler in den Mund gekriegt hatte. Geburten, Jubiläen, Geburtstage und Veranstaltungstermine wurden ebenso an die Tafel gekritzelt wie komische Sprüche.
Eines Tages kam Celeste herein und schrieb: »Falls du eine hilfreiche Hand brauchst, sie befindet sich unten an deinem Arm.«
In einem Anfall von Frömmigkeit schrieb Louise zuweilen eine Passage aus der Bibel hin.
Die Jugend fand sich ein, weil Mary und Maizie ihnen gesagt hatten, bei ihrer Mutter bekämen sie Coca-Cola umsonst. Dem Curl 'n' Twirl brachten diese unentgeltlichen Colas, die Louise und Juts je fünf Cent kosteten, neue Kunden. Sogar die Tiere versammelten sich hier, dank der Kaspereien von Yoyo und Buster.
Die älteren Damen blieben Junior McGrail treu, die sich an Samstagen mit einem Tag der Kultur rächte. Was bedeutete, daß ihr stark behaarter Sohn, der einem Affen glich, sich ins Schaufenster hockte und Harfe spielte. Das lag in der Familie, denn Juniors Bruder spielte ebenfalls Harfe.
Celeste fuhr oft nach Washington, und wenn sie zurückkam, führte sie ihr erster Weg insCurl 'n' Twirl. Sie brachte Toots stets Neuigkeiten von Rillma mit. Rillma und Celestes Neffe Francis saßen abgeschirmt in einem kleinen Zimmer im Außenministerium. Celeste glaubte, daß ihr Neffe etwas mit dem militärischen Geheimdienst zu tun hatte, doch in welcher Form, wußte sie nicht. Er sprach kaum darüber, und sie bohrte nicht nach. Sie wußte, daß Armee und Marine aufrüsteten - man mußte nur an einem Militärstandort vorbeifahren, um das zu sehen -, aber die Zeitungen schrieben sehr wenig darüber, was ihrer Meinung nach ein verhängnisvolles Zeichen war.