Hör damit auf, sagte er sich. Er zwang sich, ihre braunrosa Brustwarzen und die perfekt geformten Brüste anzuschauen. An ihrem Busen war nichts, was ihn an den Postboten erinnerte oder was auch nur eine Spur ungewöhnlich oder maskulin gewesen wäre. Es waren schöne, erregende Frauenbrüste.
Und doch ...
»Weißt du was?«, sagte Lane. Seine Stimme klang beiläufig, gleichgültig, aber es war keine echte Gleichgültigkeit. Billy kannte Lane fast sein Leben lang und konnte schon am Klang seiner Stimme erkennen, wann sein Freund log, und manchmal sogar, was er dachte. Deshalb wusste Billy, dass Lanes Gleichgültigkeit nur gespielt war.
»Was?«, fragte Billy ebenso cool.
Lane blickte sich langsam um, als wollte er sichergehen, dass niemand von draußen in das Hauptquartier spähte. Dann zog er einen zerknitterten, gefalteten Umschlag aus der Hosentasche und reichte ihn Billy. »Sieh dir das mal an.«
Billy besah sich die Außenseite des Umschlags. Er war an Lane adressiert; der Absender in der oberen linken Ecke lautete »Tama Barnes«. »Guck rein«, drängte Lane.
Billy nahm das gefaltete Papier heraus. Es war ein Brief, offensichtlich in weiblicher Handschrift. Er drehte den Brief um. Unter den geschwungenen Buchstaben war die kopierte Fotografie einer nackten Hispano-Frau. Sie lächelte. Ihre Hände hatte sie um die Brüste gelegt, die Beine waren weit gespreizt. Das fotokopierte Bild war zu verwaschen, dunkel und verschwommen, um Details zu erkennen, doch Billy hatte jede Menge Details in den Magazinen auf dem Boden gesehen, und sein Gedächtnis ergänzte, was seine Augen nicht sehen konnten.
»Lies den Brief«, sagte Lane und grinste.
Billy drehte den Brief um und las. Das Schreiben begann mit einer normalen Begrüßung, kam dann aber rasch auf die sexuellen Freuden zu sprechen, die Tama Lane bereiten wollte, all die Techniken, in denen sie Expertin war. Billy musste grinsen, als er las, was Tama mit Lanes »Liebespumpe« machen wollte. »Worüber lachst du?«, fragte Lane. »Ich wette, sie weiß nicht, dass du erst elf bist.«
»Ich bin alt genug«, verteidigte er sich. »Und außerdem hab ich ihr schon einen Brief zurückgeschickt.«
»Du hast was?« Billy starrte ihn an. »Lies das Ende.«
Billy drehte den Brief um. Sein Blick huschte zum letzten Absatz:
... Vielleicht könnten wir uns mal treffen. Ich glaube, wir würden viel Spaß miteinander haben. Wenn du mir zehn Dollar schickst, schicke ich dir ein paar scharfe Fotos von mir und meiner Schwester, zusammen mit unserer Adresse. Ich hoffe, bald von dir zu hören. Ich würde mich sehr freuen, wenn du kommst und mich besuchst.
Billy schüttelte den Kopf und blickte von dem Brief hoch. »Was bist du für ein Trottel. Siehst du denn nicht, dass das nur ein Trick ist, um an dein Geld zu kommen?« Billy zeigte auf das fotokopierte Bild. »Das haben sie wahrscheinlich aus einem Magazin ausgeschnitten.«
»Ach ja?«
»Ja. Außerdem ... sieh mal, wo dieses Postfach ist. New York. Selbst wenn sie dir wirklich ihre echte Adresse schickt, was wirst du dann machen? Nach New York fahren?« Er gab Lane den Brief. »Du hast keine zehn Dollar geschickt, oder?« Lane nickte. »Doch«, gab er zu.
»Blödmann«, sagte Billy und blickte seinen Freund neugierig an. »Woher hast du eigentlich das Geld?« Lane sah zur Seite. »Von meinem Alten.«
»Du hast es geklaut?« Billy war entsetzt.
»Was sollte ich denn machen? Ihm erzählen, dass ich zehn Dollar brauche, um sie Tama Barnes zu schicken, damit ich ihre Bilder und ihre Adresse kriege?«
»Du hättest das Geld nicht klauen sollen.«
»Ach, du kannst mich mal. Mein Alter hat massenweise Knete. Er hat nicht mal gemerkt, dass es weg war.«
Billy blickte auf die Zeitschrift, die aufgeschlagen auf seinem Schoß lag, und sagte nichts. Er und Lane stritten sich öfters, beleidigten sich manchmal sogar, aber jetzt lag in der Stimme seines Freundes etwas anderes - eine Härte, eine Streitlust, eine Drohung, die besagte, dass dies kein Thema für einen Streit war, zumindest nicht für ihre übliche, spielerische Art der Auseinandersetzung.
Eine Zeitlang waren sie still. Das einzige Geräusch im Fort war das leise Rascheln beim Umblättern der Seiten.
»Wahrscheinlich hast du recht«, sagte Lane schließlich. »Wahrscheinlich kriege ich gar nichts. Wahrscheinlich bekomme ich nicht mal meine Bilder. Aber wer weiß?«
»Ja«, sagte Billy.
»Aber ich wette, sie hat eine hübsche Muschi.«
Lanes Stimme war wieder normal, doch unter der Oberfläche hatte sich etwas verändert, etwas, was sich nicht wieder zurücknehmen ließ, und irgendwie wusste Billy, dass dieser Augenblick ein Wendepunkt in ihrer Beziehung war. Er und Lane würden sich vielleicht nie wieder so nahe stehen wie zuvor, oder auch nur wie in diesem Augenblick. Es war eine traurige Erkenntnis, eine deprimierende Entdeckung, und obwohl Lane bald keine Lust mehr hatte, die Playboys anzuschauen und stattdessen zur Ausgrabungsstätte fahren und sehen wollte, was da vor sich ging, überzeugte Billy ihn, im Fort zu bleiben.
Als ob er so die Veränderung zwischen ihnen verhindern könnte ...
Die beiden blieben für den Rest des Morgens im Fort und redeten, sahen sich die Bilder an, lasen laut die Partywitze, waren die Freunde, die sie immer gewesen waren und - so hatten sie zumindest geglaubt - immer bleiben würden.
15.
Die ganze Stadt redete über »Die Selbstmorde«, denn dafür wurden sie jetzt gehalten. Die Selbstmorde. Mit großen Buchstaben. Nach dem Begräbnis und der überwältigenden öffentlichen Anteilnahme für Bob Rondas Familie war es leicht gewesen, sich auf das Leben des ehemaligen Postboten zu konzentrieren anstatt auf seinen Tod und bei seinen guten Eigenschaften zu verweilen. Doch es blieb die Tatsache, dass er sich selbst getötet hatte. Er hatte sich mit einer doppelläufigen Schrotflinte das Gehirn weggeblasen, hatte dabei seine Frau in den Wahnsinn getrieben und eine ganze Stadt im Stich gelassen, die ihn gemocht hatte, sich um ihn gesorgt hatte, an ihn geglaubt hatte.
Und jetzt hatte auch Bernie Rogers sich umgebracht.
Im Lebensmittelladen hörten Doug und Trish nichts anderes. Die Selbstmorde. Es hatte schon früher Selbstmorde in Willis gegeben - Texacala Armstrong hatte sich im letzten Jahr erschossen, kurz nachdem ihr Ehemann an Krebs gestorben war -, aber diese Todesfälle waren vereinzelt und in gewisser Weise nachvollziehbar gewesen: Menschen, die unheilbar krank waren; Menschen, die vor kurzem einen geliebten Menschen verloren hatten; Menschen ohne Hoffnung. Niemand konnte sich erinnern, dass es jemals zwei Selbstmorde innerhalb von nur zwei Wochen gegeben hatte. Und von scheinbar normalen Menschen ohne ersichtlichen Grund.
So vermischten sich Schock und Schmerz mit morbider Neugier und abergläubischer Furcht, während die Leute mit gedämpfter Flüsterstimme über die Geschehnisse redeten. Selbst die schlimmsten Klatschmäuler der Stadt schienen sich dem Thema mit Ehrfurcht zu nähern, als wäre Selbstmord eine ansteckende Krankheit und als könnten sie sich irgendwie dagegen schützen, wenn sie die Todesfälle nicht ins Belanglose zerrten oder aufbauschten.
Nachdem Doug am Nachmittag zuvor von der Konferenz zurückgekehrt war, hatte er Trish von Bernie Rogers erzählt und dass er die Leiche des Schülers mit eigenen Augen gesehen hatte und von seinem Verdacht. Trish ihrerseits hatte ihm von Ellen Rondas Anruf und von Howards Brief berichtet, auch wenn sie es aus irgendeinem Grund immer noch nicht fertig brachte, ihm von dem nächtlichen Erlebnis mit dem Postboten zu erzählen. Doug wollte unverzüglich zur Polizei gehen und erklären, dass der Postbote irgendwie hinter beiden Todesfällen steckte oder zumindest indirekt dafür verantwortlich war. Doch Trish überzeugte ihn nach einem hitzigen Streit mit vielen Flüchen und Beschimpfungen, dass er es sich als Lehrer und geachtetes Mitglied der Gemeinschaft nicht leisten konnte, seine Glaubwürdigkeit zu beschädigen, indem er wilde Verdächtigungen vorbrachte. Doug hatte immer noch die Umschläge, die sie vom Bachufer gerettet hatten, doch ihm wurde klar, dass alle seine Mutmaßungen nicht nur einen ungeheuren Vertrauensvorschuss verlangten, sondern auch einen Glauben an ... ja, an was?