Sie wandte sich von Doug ab. Auch mit ihm wollte sie nicht darüber sprechen. Sie wollte überhaupt nicht darüber sprechen. Sie machte sich daran, die Lebensmittel auszupacken.
16.
»Das ist eine sehr interessante Theorie«, sagte Stockley. »Sehr interessant.« Er brach einen Glückskeks durch, las seinen Schicksalsspruch, warf den Zettel fort und kaute langsam den Keks, während er über das nachdachte, was Doug ihm gerade erzählt hatte.
Ben Stockley war ein ungepflegter, dickbäuchiger Mittfünfziger, der wie das Klischee eines Reporters aussah. Seine Hose war immer schwarz, sein Hemd immer weiß, und beide waren immer verknittert. Seine Haare waren dünn und grau, über seine Kopfhaut zurückgekämmt und sowohl für sein Alter als auch für die gegenwärtige Mode ein wenig zu lang. Stockleys Gesicht war rau und ledrig und ähnelte verblüffend dem von Broderick Crawford - dem Hollywood-Star, der fast immer zwielichtige Typen und Gauner spielte -, und er schien immer zu schwitzen, wie warm oder kalt es auch sein mochte. In seiner rechten unteren Schreibtischschublade bewahrte er stets eine Schachtel frivoler Glückskekse auf, die er bei einer bestimmten Firma in New York bestellte. Er kaufte diese Kekse, weil er sie liebte; aber es gefiel ihm auch, sie ahnungslosen Besuchern anzubieten und die Reaktion auf ihren Gesichtern zu beobachten, während sie ihre normalerweise obszöne Zukunft lasen. Ganz besonderen Spaß machte es ihm, die Kekse schüchternen jungen Frauen und prüden alten Damen anzubieten.
»Also, was denken Sie wirklich?«, fragte Doug.
»Sie werden den Postboten auch beschuldigen, Hunde zu vergiften?«
Doug sank in seinem Sessel zusammen. »Sie glauben mir nicht.«
»Das habe ich nicht gesagt.«
Doug sah ihn hoffnungsvoll an.
Der Herausgeber zerbrach einen weiteren Glückskeks. »Sind Sie schon zur Polizei gegangen?«
»Ich habe der Polizei bisher nur von den Briefen berichtet, mit denen uns Wasser, Strom und Telefon abgedreht wurden, und hab denen Kopien gegeben. Aber sonst habe ich ihnen noch nichts erzählt.«
»Vielleicht sollten Sie das tun.« Stockley hob die Hand. »Ich will damit nicht sagen, dass ich Ihnen glaube, aber wenn Sie recht haben, ist das definitiv eine Angelegenheit für die Polizei.«
»Ich weiß auch nicht, ob ich recht habe. Deswegen bin ich zu Ihnen gekommen. Wenn ich der Polizei erzähle, was ich gerade Ihnen erzählt habe, halten die mich wahrscheinlich für verrückt.«
Der Herausgeber kicherte. »Sie wollten kein Aufsehen, also sind Sie zu einer Zeitung gegangen. Der Witz ist gut.« Doug wollte etwas einwenden, doch Stockley schnitt ihm das Wort ab. »Ich weiß schon, was Sie versuchen wollen, aber das Problem ist, dass Zeitungen mit Fakten umgehen. Ich könnte ein Feature über Sie bringen, könnte Sie Ihre Ideen vorbringen lassen, aber dann würden Sie im Mittelpunkt stehen, und das wollen Sie doch sicher nicht.«
»Eigentlich geht es mir nicht so sehr um einen Artikel, obwohl ich der Meinung bin, dass die Leute gewarnt werden müssten. Vor allem aber suche ich Bestätigung. Sie wissen ja, was in der Stadt vor sich geht. Wenn sich jemand den Zeh anstößt oder eine Erkältung einfängt, spricht sich das herum. Und wenn in letzter Zeit jemand etwas Ungewöhnliches bemerkt hätte, dann Sie. Habe ich recht?«
Stockley schwieg und kaute.
»Sagen Sie mir nur, was vor sich geht. Was haben Sie gehört?«
Der Blick des Herausgebers war besorgt. »Das Verhältnis zwischen einem Journalisten und seiner Quelle ist heilig«, sagte er schließlich. »Es entspricht der Beziehung zwischen Anwalt und Mandant, Arzt und Patient, Priester und Beichtendem. Ich könnte lange darum herumreden, aber ich will ehrlich sein. Ja, ich habe einiges Gerede gehört. Nichts Spezielles wie das, was Sie mir erzählt haben ... nichts, was jemand zugeben würde, wenn man ihn danach fragt. Aber auch anderen Leuten ist in letzter Zeit aufgefallen, dass merkwürdige Dinge passieren. Und ich glaube, dass ihnen nach Bernie Rogers' Selbstmord noch mehr auffallen wird. Ich sollte objektiv und unparteiisch bleiben, aber ich werde Ihnen die Wahrheit sagen. Ja, ich glaube, dass hier etwas Merkwürdiges vor sich geht. Und ich glaube, dass alles mit diesem Postboten zu tun hat.«
Doug spürte, wie ihn Erleichterung erfasste. Es war großartig, einen Verbündeten zu haben; es tat unendlich gut, einen unbeteiligten Dritten sagen zu hören, dass man nicht verrückt sei. Zugleich aber machte es alles noch Furcht erregender. Denn wenn das alles stimmte, war der Postbote im günstigsten Falle gefährlich labil und geistesgestört.
Stockley hatte recht. Er, Doug, sollte zur Polizei gehen und alles erzählen.
Der Herausgeber öffnete eine Schublade und holte einen Stapel Post heraus. »Zeitungen bekommen jede Menge Briefe, wie Sie sich vorstellen können. Darunter viel merkwürdige Post. Wir landen auf jeder bekloppten Adressenliste, die man sich vorstellen kann. Nazis wollen, dass wir ihnen kostenlos Öffentlichkeit verschaffen. Kommunisten möchten, dass wir über ihre Sache berichten. Religiöse Fanatiker sind scharf darauf, dass wir den Leuten erklären, wie der Antichrist die Regierung infiltriert hat. Zwei Wochen lang - in den zwei Wochen nach Bob Rondas Tod - haben wir nur positive Post bekommen, genau wie Sie sagten. Die Zahl der Abonnenten ist gestiegen. Es kamen massenweise lobende Briefe. Sogar die chronischen Spinner haben uns nicht mehr belästigt. Das allein war schon merkwürdig genug. Dann, seit ein paar Tagen, haben wir die hier gekriegt.« Er nahm den obersten Brief vom Stapel. »Lesen Sie mal.«
Doug nahm den Brief und überflog ihn. Er beschrieb detailliert die sexuelle Folterung und Verstümmelung einer gewissen Cindy Howell. Er verzog das Gesicht. Die Beschreibung war so grausig und widerwärtig, dass er nicht zu Ende lesen konnte. »Wer ist Cindy Howell?«, fragte er.
»Meine Tochter«, antwortete Stockley.
Doug blickte entsetzt auf.
»Es geht ihr gut. Ihr ist überhaupt nichts passiert. Sie lebt in Chicago. Ich habe sie sofort angerufen. Auch die Polizei in Chicago habe ich verständigt und denen eine Fotokopie des Briefes geschickt. Sie überwachen jetzt das Haus meiner Tochter.«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie eine Tochter haben.«
»Weil ich es nie jemandem in der Stadt erzählt habe. Sie stammt aus meiner ersten Ehe, von der übrigens auch niemand etwas weiß.«
»Was glauben Sie, wie der Postbote es herausgekriegt hat?«
»Ich bin mir nicht sicher, dass es der Postbote ist. Schauen Sie sich den Poststempel an. Er ist aus Chicago. Der Brief könnte von Leuten kommen, die ich mir dort zu Feinden gemacht habe, oder von irgendeinem Verrückten, der hinter meiner Tochter her ist. Oder es könnte bloß die harmlose Drohung von irgendeinem Spinner sein. Beachten Sie, dass alles in der Vergangenheit geschrieben ist. Das sind alles Dinge, die schon passiert sein sollen.«
»Aber Sie sagten doch, dass der Postbote ...«
»Ich bin mir nicht sicher. Ich weiß eigentlich gar nichts mit Sicherheit.« Er hob den Stapel Briefe hoch. »Die sind sich alle ähnlich. Sie stammen aus Städten im ganzen Land und beziehen sich auf Menschen, die ich im Laufe meines Lebens gekannt habe. Sie sind nicht alle so offen sexuell wie dieser, aber sie sind alle gleich ... krank. Diese Briefe könnten alle Teil eines Versuchs sein, mich zu schikanieren und fertig zu machen, auch wenn ich kein Motiv dafür sehe. Es könnte aber auch ein unglaublicher, unwahrscheinlicher Zufall sein. Ich neige dazu, Ihnen bei dem Postboten zu glauben, weil ich in meiner Post dasselbe Muster entdeckt habe wie Sie und weil noch andere Leute mir gegenüber entsprechende Andeutungen gemacht haben. Ich weiß nicht genau, was hier vor sich geht, aber es scheint sich tatsächlich alles um die Post zu drehen, und es scheint tatsächlich angefangen zu haben, nachdem dieser John Smith den Job übernommen hat.«
»Also kommen Sie dann mit zur Polizei? Uns beiden wird man glauben.«