Mit einem Mal stellte Billy fest, dass er den Hügel hinunter zur Ausgrabungsstätte fuhr, ohne dass sie sein Ziel gewesen wäre. Er war nicht mehr dort gewesen, seitdem er und Lane sich zerstritten hatten. Nun jagte er den Hügel hinunter ins enge Tal. Weiter vorn gab es einen kleinen, natürlichen Graben, der durch ablaufendes Wasser entstanden war. Billy riss die Lenkstange hoch, und das Rad flog darüber hinweg. Bei der harten Landung geriet er kurz ins Rutschen, behielt jedoch Geschwindigkeit und Gleichgewicht bei und trat wild in die Pedale.
Der Boden ging in ebenes Gelände über. Billy fuhr langsamer, als er sich der Fundstätte näherte. Als er die Bäume im Umkreis der Grabung erreichte, sprang er vom Rad und ging den Rest des Weges zu Fuß.
Es war niemand dort.
Billy blickte sich um. Er wusste, die Universität hatte die Ausgrabungen nicht vor Ende August abschließen wollen; offensichtlich hatten sie nun doch beschlossen, eher zu gehen. Billys erster Gedanke war, dass alle sich einen Tag frei genommen hatten, um in die Stadt, zum See oder zu einem der Bäche zu gehen. Doch es war offensichtlich, dass sie alles eingepackt und ihre Arbeit beendet hatten und nach Hause gefahren waren. Es waren nur ein paar Markierungspfosten übrig, die im Boden steckten, und ein paar zerrissene Umschläge lagen auf der Erde verstreut.
Billy runzelte die Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht. Im letzten Sommer war auf der Grabungsstätte kein Müll zurückgeblieben. Überhaupt nichts. Das Motto des Professors war »Pack es aus, pack es ein« gewesen, und er hatte dafür gesorgt, dass seine Studenten den Grabungsort so verließen, wie sie ihn vorgefunden hatten.
Plötzlich hatte Billy Angst, und ihm wurde bewusst, dass er hier draußen vollkommen allein war. Das schreckliche Gefühl, von allem und jedem abgeschnitten zu sein, kam von einem Augenblick zum anderen über ihn. Rasch drehte er sein Rad um ...
Und sah den Postboten.
Er kam mit großen Schritten über die nackte Erde auf ihn zu. Sein Haar leuchtete feuerrot vor dem grünen Hintergrund. Er trug keinen Postsack auf dem Rücken und hatte keine Briefe in der Hand. Offenbar war er hierhergekommen, um etwas anderes zu tun, als Briefe auszutragen. Diese Feststellung jagte Billy mehr Angst ein als alles andere.
Er sprang auf sein Rad und trat mit aller Kraft die Pedale. Dabei übersah er einen der ausgehobenen Gräben. Das Vorderrad rutschte weg, und er landete auf dem Boden. Sein Kopf schlug auf der harten Erde auf. Billy war benommen, aber nicht verletzt, und kam wieder auf die Beine. Als er den Blick hob, stand der Postbote direkt neben ihm und lächelte.
»Billy«, sagte der Postbote Furcht erregend leise.
Billy wollte weglaufen, konnte es aber nicht. Alle Kraft schien aus seinem Körper gewichen zu sein. Der Wald um die archäologische Stätte herum erschien ihm plötzlich so undurchdringlich wie ein tropischer Dschungel.
Der Postbote legte eine Hand auf Billys Schulter. Seine Berührung war sanft wie die einer Frau. »Komm her«, sagte er.
Mit bezwingender Kraft führte er Billy über die leere Grabungsstätte zu einer großen Grube am Ende der Lichtung. Billy konnte sich nicht erinnern, sie vorher schon einmal gesehen zu haben. Er verspannte sich, als sie sich der Grube näherten. Er wusste, dass er nicht sehen wollte, was der Postbote ihm nun zeigen würde.
»Schau hin«, sagte der Postbote lächelnd.
Die Grube war mit Leichen und Leichenteilen gefüllt: Augen, die in die Luft starrten; Hände, die schlaff über Rümpfe fielen. In dem Sekundenbruchteil, ehe Billy den Blick vor diesem Grauen verschloss, sah er ein wechselndes Farbmuster aus rosa Fleisch, rotem Blut und weißen Knochen, und für einen Augenblick hatte er das schreckliche Gefühl, irgendwo in diesem Gewirr aus Armen und Beinen, Fingern und Zehen die untere Gesichtshälfte des Professors gesehen zu haben.
Billy erwachte schweißgebadet und mit trockenem Mund aus dem Albtraum. Eine Sekunde lang erschien ihm seine Umgebung fremd - die Möbel, die Poster an den Wänden. Dann wurde er vollends wach, und alles war genau dort, wo es hingehörte.
Doch die Bilder aus dem Albtraum blieben. Allerdings nicht wie die Erinnerung an etwas Irreales, das niemals geschehen war, sondern wie eine Erinnerung an ein wirkliches Erlebnis.
Und irgendetwas in seinem Innern sagte Billy, dass es mehr als bloß ein Traum gewesen war.
27.
»Ich bin an einem Punkt angelangt«, sagte Irene, »wo ich Angst habe, die Post zu öffnen.«
Trish, die auf dem antiken Zweiersofa saß, nickte. »Ich weiß, was du meinst. Als Erstes sehe ich mir jetzt immer den Absender an. Wenn er unbekannt ist, werfe ich den Brief weg.«
»Ich werfe alle Briefe weg, selbst wenn sie von Leuten kommen, die ich seit Jahren kenne. Der letzte Brief, den ich aufgemacht habe, war von Bill Simms, der mir vorgeworfen hat, ich hätte seinen Hund vergiftet. Kannst du das glauben?« Die alte Frau leckte sich unruhig über die Lippen, und Trish wurde klar, dass ihre Freundin Angst hatte. Große Angst. Sie runzelte die Stirn. Irene war keine Frau, die sich leicht einschüchtern ließ, und allein schon, sie in diesem Zustand zu sehen, machte Trish nervös. Es musste mehr geben als ein paar hasserfüllte Briefe, die Irene so sehr verängstigt hatten.
Trish stellte ihr Glas Eistee ab. »Was ist?«, fragte sie. »Was ist los? Da ist doch mehr als nur Bill Simms.«
Irene schüttelte den Kopf. »Nein. Da ist nichts.«
»Es ist nicht nichts, verdammt! Nun sag schon.«
Überrascht von der Heftigkeit ihrer Reaktion, starrte Irene sie an. Dann nickte sie. »Okay. Du willst wissen, was es ist? Dann komm mit.« Ihre Stimme war leise, verschwörerisch und klang sehr ängstlich.
Trish folgte ihr über den Flur in den verschlossenen Raum, der das Zimmer von Irenes Mann gewesen war. Es diente jetzt nur noch als Abstellkammer, voller Gegenstände und schmerzlicher Erinnerungen an die Vergangenheit - Dinge, die Irenes verstorbenem Ehemann gehört hatten. Trish schaute sich um. Sie war noch nie in diesem Zimmer gewesen. Nun sah sie, dass es von Bücherregalen beherrscht wurde, die an zwei gegenüberliegenden Wänden vom Boden bis zur Decke reichten. Kleidung und persönliche Gegenstände lagen aufgestapelt auf einem alten Esstisch aus Eiche, der in der Mitte des Zimmers neben anderen unbenutzten Möbeln stand.
»Da«, sagte Irene. Ihre Stimme bebte.
Trishs Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger der Frau. Auf dem geöffneten Sekretär - neben einem Stapel alter, eingestaubter Taschenbuch-Western - lag eine kleine Schachtel, noch halb in das braune Packpapier gewickelt, in dem der Postbote sie zugestellt hatte. In der Staubschicht auf dem Schreibtisch war eine unregelmäßige, saubere Spur, wo die Schachtel über die Schreibplatte gerutscht war. Offensichtlich war sie hastig dorthingeworfen worden.
Irene blieb an der Tür stehen und umklammerte fest den Messingknauf. »Das wurde mir gestern geschickt«, sagte sie und schluckte mit offensichtlicher Mühe. Ihre Hände zitterten, und Trish konnte in der Stille des Raumes ihren unregelmäßigen Atem hören. »Da ist ein Zeh drin.«
»Was?«
»Da ist ein Zeh in der Schachtel.«
Trish ging langsam vorwärts. Ihr Herz schlug laut. Sie erreichte den Sekretär, nahm die Schachtel, öffnete sie.
Sie wusste, worauf sie sich gefasst machen musste, aber es war trotzdem ein Schock. Auf dem Boden der Schachtel lag ein Zeh, ein menschlicher Zeh, der sich leuchtend weiß vom Braun der Pappe abhob. Es war ein kleines Ding, aber erschreckend wirklich. Trish konnte die glatte, abgerundete Spitze erkennen, die Hautfalten am Gelenk, einzelne Haare auf der glatten Haut unterhalb des rosafarbenen Nagels. Der Zeh war sauber abgetrennt worden, aber da war kein Blut, kein einziger Tropfen.
Trish stellte die Schachtel hin. Ihr war leicht übel. Der Zeh rollte herum, und sie konnte das rote Fleisch, Adern und in der Mitte den runden weißen Knochen erkennen. Plötzlich erschien ihr der Raum zu klein, zu eng, und sie wich vom Sekretär zurück.