Doug kam an der Stelle neben dem Pfad vorbei, wo sie ihr Picknick gemacht hatten, und watete weiter durchs Wasser. Die Flussbiegung lag direkt vor ihm. Wie viele Briefe würden jetzt dort sein? Vielleicht wurde die Post dort nicht mehr einfach nur abgeladen. Vielleicht benutzte der Postbote die weggeworfene Post nun für bestimmte Zwecke. Vor seinem inneren Auge sah Doug eine Poststadt mit kleinen Hütten, die neben dem Bach aus Millionen von weggeworfenen Umschlägen gebaut worden waren - Briefe, die sorgfältig zu Fundamenten und Böden, Wänden und Dächern arrangiert worden waren.
Das war verrückt.
Aber was war in diesen Tagen nicht verrückt?
Doug stand direkt vor der letzten Biegung und lauschte auf Geräusche, hörte aber nur das Wasser und die Zikaden. Langsam bewegte er sich vorwärts und spähte um die Biegung.
Da war nichts.
Die Post war verschwunden.
Doug war beinahe erleichtert. Beinahe. Seine Genugtuung, dass er den Postboten gezwungen hatte, die Briefe woanders abzuladen, wurde durch die bittere Erkenntnis zunichte gemacht, dass John Smith erschreckend gründlich bei der Beseitigung der bereits weggeworfenen Post gewesen war. Tausende von Umschlägen hatte er aus dem Wasser, vom Boden, von den Bäumen und Büschen eingesammelt und weggebracht, Stück für Stück.
Billy war oben, als Doug nach Hause kam, und saß vor seinem eigenen Fernseher, weil Trish im Wohnzimmer die Phil Donahue Show eingeschaltet hatte, ihre politische Lieblingstalkshow. Offenbar war die Stromversorgung endlich wiederhergestellt. Trish war in der Küche und schnippelte Gemüse. Doug sagte ihr, sie solle aufhören, zog sie hinter sich her ins Wohnzimmer und setzte sie auf die Couch. Er erzählte ihr, was Hobie passiert war. Trish wurde immer blasser, als sie schweigend dasaß und sich Dougs Geschichte anhörte.
»Mit Irene macht er dasselbe«, sagte sie leise, als Doug geendet hatte.
»Was ist denn mit ihr?«
Trish zögerte keine Sekunde: Obwohl sie Irene versprochen hatte, weder Doug noch der Polizei zu erzählen, was geschehen war, war dieses Versprechen nicht mehr gültig. Ihre Freundin war möglicherweise in Gefahr, und es war wichtiger, ihr zu helfen, als irgendein lächerliches Versprechen zu halten.
Trish erzählte Doug von dem Zeh und von Irenes Mann und seinem Unfall und berichtete ihm auch, dass sie selbst an diesem Nachmittag vier- oder fünfmal anzurufen versucht hatte, dass aber niemand ans Telefon gegangen war.
»Du lieber Himmel! Warum hast du nicht die Polizei verständigt?«
»Ich habe nicht gedacht ...«
»Das stimmt. Du hast nicht gedacht.« Doug ging zum Telefon im Wohnzimmer und nahm den Hörer ab.
Die Leitung war tot.
»Mist!« Wütend knallte er den Hörer auf die Gabel und blickte zu Trish hinüber. »Komm, mach dich fertig. Wir sprechen mit der Polizei.«
Er ging nach oben. Billy lag auf dem Bett und schaute Verliebt in eine Hexe an. »Wir fahren in die Stadt«, sagte Doug. »Zieh dir die Schuhe an.«
Billy nahm den Blick nicht vom Fernseher. »Ich will die Sendung sehen.«
»Sofort!«
»Warum kann ich nicht hierbleiben?«
»Weil ich es sage. Jetzt zieh dir die Schuhe an, oder der Fernseher bleibt auf Dauer aus.« Doug stieg wieder die Treppe hinunter und sah nach, ob die Hintertür abgeschlossen war. Trish kam aus dem Bad und kämmte sich das Haar zurück. Um die Schulter hatte sie ihre Tasche geschlungen. Auf der Treppe waren Billys wütend stampfende Schritte zu hören.
»Gehen wir«, sagte Doug.
Den ganzen Weg zur Stadt schwiegen sie. Trish saß besorgt neben Doug, und Billy hatte sich wütend, mit vor der Brust verschränkten Armen auf den Rücksitz gequetscht. Doug fuhr auf den Parkplatz des Polizeireviers und parkte neben einem verbeulten Buick. Er sagte zu Billy, dass er im Wagen warten solle; dann gingen er und Trish ins Gebäude. Der diensthabende Officer kam sofort nach vorn zum Empfang, als er die beiden sah. »Kann ich Ihnen helfen?«
Doug ließ den Blick durch den Raum schweifen. »Wo ist Mike?«
»Welcher Mike?«
»Mike Trenton.«
»Es tut mir leid, aber Informationen über Schichten und Arbeitszeiten der Polizeibeamten sind vertraulich.«
»Hören Sie, ich kenne Mike. Okay?«
»Würden Sie ihn so gut kennen, müssten Sie nicht danach fragen, wo er ist«, erwiderte der Polizist. »Tut mir leid, aber aus Sicherheitsgründen darf ich Ihnen keine Informationen darüber geben. Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?«
»Das hoffe ich.« Doug erzählte dem Sergeant von Hobie und Irene. Zuerst ließ er die Einzelheiten aus und erklärte lediglich, dass ihre Freunde vom Postboten genötigt und belästigt würden, doch als der Sergeant zu einem belanglosen »Wir werden uns darum kümmern« ansetzte, beschloss Doug, alles zu berichten.
»Hobie Beecham hat mehrmals Briefe von seinem toten Bruder bekommen«, sagte er. »Irene Hill wurde mit der Post ein abgetrennter Zeh geschickt. Hobie Beecham ist völlig verzweifelt. Im Moment liegt er sturzbetrunken auf seiner Couch und schläft. Und Irene geht gar nicht mehr ans Telefon. Also - glauben Sie, dass Sie in Ihrem engen Zeitplan ein paar Minuten abzweigen könnten, um der Angelegenheit nachzugehen?«
Das Verhalten des Sergeants veränderte sich schlagartig. Plötzlich war er eifrig bemüht zu helfen, auch wenn er dabei eine seltsame, ängstliche Nervosität an den Tag legte. Er notierte Dougs und Trishs Namen und Adresse sowie die Anschriften von Hobie und Irene.
Er weiß es, dachte Doug. Er hat selbst Briefe bekommen.
»Ich schicke einen Officer, der Mister Beecham und Mrs. Hill befragt«, sagte der Sergeant.
Doug warf einen Blick auf die Wanduhr: Es war beinahe vier; das Postamt würde noch eine Stunde geöffnet sein. »Was ist mit John Smith? Werden Sie auch jemanden zum Postamt schicken, um mit ihm zu reden?«
»Natürlich.«
»Ich komme mit.«
Der Sergeant schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, aber Zivilpersonen ...«
»Schon gut.« Doug lächelte dünn. »Dann gehe ich eben selbst zum Postamt und bin zufällig zur gleichen Zeit da wie Ihr Kollege.« Er sah Trish an. »Gehen wir.«
Die beiden verließen die Polizeiwache, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Doug schwitzte; sein Körper war aufgeladen mit Adrenalin.
Er hatte die Wagenschlüssel bei Billy gelassen, der das Autoradio eingeschaltet hatte. Die Laune des Jungen schien sich während der Abwesenheit seiner Eltern gebessert zu haben. Er war nicht mehr schweigsam und mürrisch, als sie in den Wagen stiegen.
»Warum sind wir eigentlich hier?«, fragte er.
»Wir ... nun ja«, druckste Trish herum.
»Es geht um den Postboten, stimmt's?«
Während Doug den Motor anließ, sah er seinen Sohn im Innenspiegel an. »Ja«, gab er zu.
»Werden sie ihn kriegen?«
Doug nickte. »Das hoffe ich doch.«
Billy lehnte sich im Rücksitz zurück. »Ich glaub aber nicht, dass sie ihn kriegen.«
Doug antwortete nicht. Er wartete einen Augenblick, bis er Tim Hibbard und zwei andere Officers aus dem Revier kommen sah. Tim winkte ihm, dass er ihm folgen sollte. Doug legte den Rückwärtsgang ein, fuhr den Bronco aus der Parklücke, setzte sich hinter den Streifenwagen und folgte ihm vom Parkplatz auf die Straße und zum Postamt.
»Bleibt hier«, sagte Doug, als er aus dem Wagen stieg. Tim wartete schon neben dem Eingang des Gebäudes auf ihn.
Trish löste ihren Sicherheitsgurt. »Auf keinen Fall. Ich komme mit.«
»Ich auch«, sagte Billy.
»Du bleibst auf jeden Fall hier, Billy«, widersprach Doug.
»Ja«, pflichtete Trish ihm bei.
»Warum konnte ich dann nicht gleich zu Hause bleiben und fernsehen?«
Weil ich Angst hatte, dich allein zu lassen, antwortete Doug stumm, schüttelte nur den Kopf und sagte nichts. Er ließ die Schlüssel im Zündschloss stecken, stellte im Radio Billys Lieblingssender ein und schloss die Wagentür. Dann gingen er und Trish zu Tim hinüber, der auf sie wartete.