Der Officer grinste, als sie näher kamen. »Der Chief wäre stocksauer, wenn er wüsste, dass Sie hier bei mir sind«, sagte er. »Er kann Sie nicht leiden, wissen Sie.«
Doug tat, als wäre er überrascht. »Moi?«
Tim lachte.
Doug blickte zur Tür des Postamts. Die Nachmittagssonne wurde vom Glas reflektiert, sodass man nur mit Mühe ins Innere schauen konnte, doch es schienen keine Kunden im Gebäude zu sein. Er wandte sich an Tim. »Wo ist Mike?«
»Sie wollen die Wahrheit wissen? Er wurde von diesem Fall abgezogen, weil der Chief glaubt, dass er zu nahe dran ist.«
»Zu nahe an mir, meinen Sie.«
»Stimmt.«
»Und mit ›dieser Fall‹ meinen Sie den Postboten?«
Wieder lächelte Tim. »Inoffiziell.«
»Na, wenigstens tut sich etwas. Ich habe mir schon Sorgen um euch Polizisten gemacht.«
»Der Chief glaubt immer noch, dass das alles bloß Quatsch ist, und wir haben immer noch nichts nachweisen können.«
»Bis jetzt«, sagte Trish.
»Wir werden sehen.« Tims Blick wanderte von Trish zu Doug. »Sind Sie bereit?«
Doug nickte. »Packen wir's an.«
Der Tag neigte sich dem Abend zu, die Luft wurde kühler, doch im Postamt war es heiß und schwül. Doug fiel sofort auf, dass das Innere sich wieder verändert hatte: Die Wände, früher im tristen Graugrün öffentlicher Gebäude gestrichen, waren nun tiefschwarz. Doug war noch nie die Farbe des Fußbodens aufgefallen - er war blutrot. Die Plakate an den Wänden zeigten Briefmarken, die es unmöglich geben konnte. Blutige Folterszenen. Widernatürlicher Sex.
Hinter dem Schalter sah Doug seine ehemalige Schülerin Giselle. Sie sortierte Briefe. In ihrer neuen blauen Uniform, das Haar streng unter der Kappe zurückgekämmt, sah sie fremd aus, wie eine Nazibraut; ihr Anblick an diesem Ort ließ sie wie eine ganz andere Person erscheinen. Sie wirkte irgendwie beschmutzt, verdorben, weil sie nun die Kollegin des Postboten war - als hätte sie dadurch allen anderen in der Stadt, ihren Eltern und ihren alten Freunden, den Rücken zugewandt und sie verraten.
Doug schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es die ganze Zeit das Ziel des Postboten gewesen war, eine Art paramilitärische Organisation aufzubauen und dafür die Jugendlichen in Willis zu benutzen. Eine Jugendtruppe, die die Macht im Ort übernehmen würde. Aber diese Theorie war zu einfach. Es musste viel mehr dahinterstecken.
Das wahre Ziel des Postboten, da war Doug sicher, war viel größer und schrecklicher.
Hatte er überhaupt ein Ziel? War das alles nicht bloß ein irrsinniger Traum?
Als Englischlehrer beschäftigte Doug sich ständig mit Themen und Motiven in der Literatur, und er neigte dazu, der Wirklichkeit ähnliche Strukturen zuzuschreiben. Aber dies hier war kein Roman, in dem die Handlung aus ganz bestimmten Gründen stattfindet: um einen Charakter zu beleuchten, eine Wahrheit zu enthüllen oder ein Ziel zu erreichen. Es war durchaus möglich, dass der Postbote nicht zu einem bestimmten Zweck in dieser Stadt war oder als Teil irgendeines großen, düsteren Planes, sondern nur zu seiner eigenen Unterhaltung, zum Privatvergnügen.
Oder ohne besonderen Grund.
Doug griff nach Trishs Hand und hielt sie fest.
Tim räusperte sich und näherte sich dem Schalter. Auch er musste vom Zustand des Postamts überrascht worden sein, doch er ließ sich nichts anmerken. »Ich muss mit Mister Crowell und Mister Smith sprechen«, sagte er.
Giselle blickte von ihrer Arbeit hoch und schaute von Tim zu Doug und Trish. Sie lächelte Doug an, und er bereute sofort, dass er sie so oberflächlich beurteilt hatte. Sie hatte sich also doch nicht verändert.
Warum aber arbeitete sie dann für den Postboten?
»Ist Howard da?«, fragte Doug.
Giselle schüttelte den Kopf. »Er ist immer noch krank.«
»Würden Sie Mr. Smith bitte ausrichten, dass ich ihn sprechen möchte?«, sagte Tim.
Der Postbote kam aus dem hinteren Raum. Wie immer war er in seine makellose Uniform gekleidet. Doug fiel auf, dass sein Haar fast dieselbe leuchtend rote Farbe hatte wie der Boden. »Guten Tag, Gentlemen«, sagte er. Er lächelte Trish an und nickte. »Ladys.«
Trish versuchte, sich hinter Doug zu verstecken. Sie mochte die Augen des Postboten nicht. Sie mochte das Lächeln des Postboten nicht.
Sie sind hübsch.
Seine Augen blieben auf Trish gerichtet und hielten ihren Blick fest, obwohl sie verzweifelt wegzuschauen versuchte. »Wie geht es Ihrem Sohn?« Die Frage wirkte ganz unschuldig und beiläufig, doch unter dem oberflächlichen Interesse lag eine tiefere, obszöne, Furcht einflößende Bedeutung.
Billy ist auch hübsch.
»Wir sind nicht hierhergekommen, um zu plaudern«, entgegnete Doug kühl.
»Uns liegen Berichte vor, dass die Post manipuliert worden ist«, sagte Tim. Seine Stimme war ruhig und fest, aber Doug hörte einen Anflug von Angst darin. Er wusste, dass John Smith es ebenfalls hörte. »Zwei Einwohner haben sich beschwert, dass sie ziemlich ...«, er suchte nach dem richtigen Wort, »... bizarre Gegenstände zugestellt bekommen haben.«
John Smith starrte den Polizisten ruhig an. »Was denn, zum Beispiel?«
»Illegale Gegenstände.«
Der Postbote lächelte geduldig und verständnisvoll. »Der Postal Service ist für den Inhalt der Sendungen, die er befördert, nicht verantwortlich, und kann nach den Gesetzen des Bundes nicht für Schäden haftbar gemacht werden, die als Ergebnis der Beförderung entstehen. Wir sind jedoch ebenso besorgt wie Sie über den Missbrauch des Postsystems und sind zur uneingeschränkten Zusammenarbeit bereit, wenn es darum geht, dieses Problem an der Wurzel zu packen.«
Tim wusste nicht, wie er reagieren sollte, und blickte Doug Hilfe suchend an.
»Sie selbst schicken Post«, stellte Doug fest.
Der Blick des Postboten war unerschütterlich und unergründlich. »Natürlich«, entgegnete er. »Wir alle verschicken Post. Wollen Sie damit sagen, dass ich selbst keine Briefe und Päckchen verschicken darf, nur weil ich für die Post arbeite? Halten Sie das für eine Art Interessenkonflikt?« Er lachte. Es war ein falsches, künstliches Lachen, von dem Doug wusste, dass er es durchschauen sollte. Das Gespräch, erkannte Doug, funktionierte auf zwei Ebenen. Der Postbote drohte ihm.
John Smith lächelte. »Ich muss genauso Porto bezahlen wie jeder andere. Ich bekomme nicht einmal Rabatt. Aber es gibt keine Begrenzung bei der Zahl von Briefen, die ich verschicken kann. Ich kann so viele Briefe, Pakete und Päckchen schicken, wie ich möchte.«
»Haben Sie Drohbriefe verschickt?«, fragte Tim. »Haben Sie irgendwelche Körperteile verschickt?«
Der Postbote tat nicht einmal so, als wäre er überrascht. »Mir gefallen Ihre Unterstellungen nicht«, entgegnete er.
»Ich fürchte, ich werde dieses Postamt durchsuchen müssen.«
»Ich fürchte, Sie werden sich einen Durchsuchungsbeschluss besorgen müssen«, entgegnete der Postbote. »Und ich fürchte, es wird ziemlich schwer für Sie sein, einen Beschluss zu bekommen, um ein Amtsgebäude der Bundesregierung zu durchsuchen.« Er blickte an Doug und Trish vorbei aus dem Fenster. »Wie geht es Billy heute?«, fragte er.
»Lassen Sie Billy in Ruhe, Sie verdammter ...« Trish starrte ihn wütend an. John Smith kicherte.
Doug bemerkte, dass Giselle hinter dem Schalter vom Postboten zurückwich. Sie sah verwirrt aus.
»Ich fürchte, die Gentlemen«, der Postbote lächelte Trish an, »und Ladys werden mich entschuldigen müssen. Ich habe zu arbeiten.«
»Ich bin noch nicht mit Ihnen fertig«, sagte Tim.
»Aber ich mit Ihnen«, erwiderte der Postbote, und in seiner Stimme lag etwas, das die anderen verstummen ließ. Sie beobachteten, wie Smith sich in den hinteren Teil des Gebäudes zurückzog.