Sie kleideten sich für ihre Rollen, so gut sie konnten, indem sie die Sachen aus dem Ranzen und die Kleider, die sie bei der Abfahrt getragen hatten, untereinander verteilten. Bothari und Koudelka spielten zwei kürzlich entlassene Soldaten, die ihr bedauernswertes Los zu verbessern suchten, Cordelia und Drou zwei Frauen vom Land, die an den Plänen der Männer beteiligt waren.
Die Frauen trugen eine realistisch kuriose Mischung aus abgetragenen Kleidern aus den Bergen und abgelegtem Oberklassenoutfit, das anscheinend aus einem Secondhand-Shop stammte. Sie erreichten das passende Aussehen von Frauen in schlechtsitzenden Kleidern, indem sie ihre Kleidung tauschten.
Cordelia schloß erschöpft ihre Augen, obwohl sie nicht schlafen konnte. Die Zeit tickte in ihrem Gehirn. Sie hatten zwei Tage gebraucht, um so weit zu kommen. So nahe an ihrem Ziel, so weit weg vom Erfolg … Sie schlug die Augen wieder auf, als der Laster anhielt und auf dem Boden aufschlug. Bothari bewegte sich vorsichtig durch die Öffnung in die Fahrerzelle.
»Wir steigen hier aus«, rief er leise. Sie gingen hintereinander hindurch und sprangen am Straßenmarkt der Stadt ab. In der Kälte stieg ihr Atem wie Rauch auf. Es herrschte die Dunkelheit vor der Morgendämmerung, und es gab weniger Lichter in der Umgegend, als nach Cordelias Meinung eigentlich vorhanden sein sollten. Bothari winkte dem Transporter, weiterzufahren.
»Ich dachte, wir sollten nicht bis zur Zentralmarkthalle mitfahren«, knurrte Bothari. »Der Fahrer sagte, daß Vorbohns Stadtwachen dort massenweise rumstehen um diese Tageszeit, wenn die neuen Lieferungen eintreffen.«
»Erwartet man Unruhen wegen Lebensmittelknappheit?«, fragte Cordelia.
»Ohne Zweifel, außerdem wollen die ihren Nachschub als erste bekommen«, sagte Koudelka. »Vordarian muß bald die Armee aufbieten, bevor der Schwarzmarkt alle Lebensmittel aus dem Rationierungssystem absaugt.« In den Momenten, wo Kou vergaß, so zu tun, als sei er ein künstlicher Vor, zeigte er ein erstaunliche und detaillierte Kenntnis der Schwarzmarktwirtschaft. Oder wie hatte ein Lebensmittelhändler seinem Sohn die Erziehung erkauft, die ihm trotz heftigen Wettbewerbs den Eintritt in die Kaiserliche Militärakademie ermöglichte? Cordelia grinste vor sich hin und schaute die Straße hinauf und hinab. Es war ein altes Stadtviertel, aus der Zeit vor Einführung der Liftrohre, keine Gebäude, die mehr als sechs Treppen hoch waren. Alles schäbig: Wasser-, Strom- und sonstige Leitungen waren in die Architektur eingeschnitten, nachträglich hinzugefügt.
Bothari führte sie, er schien zu wissen, wohin er ging. In der Richtung, in der sie gingen, wurde der Zustand der Häuser nicht besser. Die Straßen und Gassen wurden enger, hatten den feuchten Geruch des Verfalls, in den sich gelegentlich der nach Urin mischte. Die Lichter wurden weniger.
Drous Schultern sanken zusammen. Koudelka packte seinen Stockdegen.
Bothari hielt vor einem engen, schlecht beleuchteten Eingang, auf dem ein handgeschriebenes Schild Zimmer versprach. »Das reicht.« Die Tür, eine alte, nichtautomatische mit Türangeln, war verschlosssen. Er rüttelte daran, dann klopfte er. Nach einer Weile öffnete sich eine kleine Tür in der Tür und mißtrauische Augen schauten heraus.
»Was willste denn?«
»Zimmer.«
»Um diese Zeit? Das glaubste wohl selbst nich.«
Bothari zog Drou nach vorn. Der Streifen Licht aus der Öffnung fiel auf ihr Gesicht.
»Aha«, knurrte die von der Tür gedämpfte Stimme. »Na dann …« Ketten klirrten, Metall knirschte, und die Tür öffnete sich.
Sie drängten sich alle in einen engen Vorraum mit Treppen, einer Theke für die Anmeldung und einem Durchgang zu einem abgedunkelten Zimmer. Der Wirt wurde noch mürrischer, als er hörte, daß sie zu viert nur ein einziges Zimmer wollten. Aber er widersprach nicht, anscheinend verlieh ihre wirkliche Verzweiflung ihrer gespielten Armut den Hauch der Echtheit. Da zwei Frauen bei ihnen waren und vor allem so jemand wie Koudelka, schien niemand auf die Idee zu verfallen, sie für Geheimagenten zu halten.
Sie quartierten sich in einem engen, billigen Raum im Obergeschoß ein, Kou und Drou durften als erste die Betten ausprobieren. Als das Licht der Morgendämmerung durch das Fenster sickerte, folgte Cordelia Bothari über die Treppe nach unten, um nach Essen zu suchen.
»Ich hätte daran denken sollen, daß wir in eine belagerte Stadt Proviant mitbringen müßten«, murmelte Cordelia.
»Es ist noch nicht so schlimm«, sagte Bothari. »Ach — am besten sagen Sie nichts, Mylady. Ihr Akzent.«
»Sie haben recht. Verwickeln Sie aber mal den Kerl da unten in ein Gespräch, wenn Sie können. Ich möchte gerne hören, wie man hier die Dinge sieht.«
Sie fanden den Wirt, oder was immer er war, in dem kleinen Zimmer hinter dem Durchgang, das nach einer Theke und ein paar abgenutzten Tischen mit Stühlen zu schließen sowohl als Bar wie auch als Speiseraum diente. Der Mann verkaufte ihnen widerstrebend einige in Folien verpackte Lebensmittel und ein paar Flaschen mit Getränken, allerdings zu stark überhöhten Preisen, er jammerte dabei über die Rationierung und versuchte, etwas über sie zu erfahren.
»Jch habe diese Reise schon seit Monaten geplant«, sagte Bothari und lehnte sich an die Bar, »und der verdammte Krieg hat alles versaut.«
Der Wirt gab ein aufmunterndes Knurren von sich, von einem Unternehmer zum anderen sozusagen. »Aha? Was hast du vor?«
Bothari leckte seine Lippen, seine Augen verengten sich nachdenklich.
»Hast du die Blondine gesehen?«
»Ja?«
»Jungfrau.«
»Auf keinen Fall. Zu alt.«
»O doch. Die hat Klasse. Wir wollten das ganze einem VorLord beim Winterfest verkaufen. Und uns damit sanieren. Aber die sind ja alle aus der Stadt abgehauen. Vielleicht sollten wir es bei einem reichen Kaufmann versuchen. Aber das wird sie nicht mögen. Ich hab ihr einen echten Lord versprochen.«
Cordelia verbarg ihren Mund hinter ihrer Hand und versuchte, kein Geräusch von sich zu geben, das die Aufmerksamkeit auf sie lenken würde. Es war gut, daß Drou nicht hier war, um Botharis Idee für ihre Tarnung zu hören. Guter Gott! Zahlten barrayaranische Männer wirklich für das Privileg, an unerfahrenen Frauen dieses Stückchen sexueller Quälerei ausüben zu dürfen?
Der Wirt blickte auf Cordelia. »Du läßt sie allein mit deinem Partner, ohne ihre Anstandsdame. Da könntest du ja das verlieren, was du hier in der Stadt verkaufen willst.«
»Nö«, sagte Bothari. »Er würde, wenn er könnte, aber er ist einmal von einem Nervendisruptor getroffen worden. Unter der Gürtellinie, sozusagen. Er wurde wegen seiner Verletzung aus dem Dienst entlassen.«
»Und warum bist du draußen.«
»Entlassen ohne Verbindlichkeit.«
Das war ein anderer Ausdruck für: ›Quittier den Dienst oder du wanderst in den Bau!‹, wie Cordelia annahm, die Endstation für notorische Unruhestifter, die kurz, aber nur kurz vor einem Verbrechen haltmachten.
»Du hast dich mit einem Spastiker zusammengetan?« Der Wirt machte eine Bewegung mit seinem Kopf in Richtung auf das Zimmer im Obergeschoß.
»Er ist das Gehirn der Firma.«
»Da ist nicht viel Gehirn da, wenn ihr hierher kommt und jetzt diese Art von Geschäft machen wollt.«
»Na ja. Ich glaube, ich könnte einen besseren Preis für das gleiche Stück Fleisch bekommen, wenn ich sie schlachten und garnieren ließe.«