»Bis ich Vorrutyer begegnete.« Er blickte unbestimmt herum. »Damals waren hier mehr Leute. Heute ist’s hier fast tot.« Seine Stimme wurde nachdenklich. »Es gibt einen großen Teil in meinem Leben, woran ich mich nicht mehr gut erinnern kann. Es ist, als … bestünde ich aus lauter verschiedenen Stücken. Aber da gibt es einige Dinge, die ich vergessen will, aber nicht vergessen kann.«
Sie hatte nicht vor, ihn zu fragen: ›Was?‹ Aber sie machte mit ihrer Kehle einen Laut, der anzeigte, daß sie zuhörte.
»Weiß nicht, wer mein Vater war. Ein Bastard zu sein ist hier fast so schlimm, wie ein Mutant zu sein.«
›»Bastard‹ wird verwendet als negative Beschreibung einer Persönlichkeit, aber es hat im betanischen Kontext wirklich keine objektive Bedeutung. Unlizenzierte Kinder sind nicht dasselbe, und sie sind so selten, daß man sich mit ihnen auf der Basis der Einzelfälle beschäftigt.« Warum erzählt er mit all dies? Was will er von mir? Als er begann schien er fast ängstlich, jetzt sieht er fast zufrieden aus. Was habe ich richtig gesagt? Sie seufzte.
Zu ihrer geheimen Erleichterung kam da Koudelka zurück, der echte frische Sandwiches aus Brot und Käse sowie Bier in Flaschen mitbrachte.
Cordelia war froh über das Bier, denn sie war dem Wasser in einem solchen Haus gegenüber mißtrauisch. Sie aß dankbar den ersten Bissen und sagte: »Kou, wir müssen unsere Strategie jetzt neu überdenken.«
Er ließ sich linkisch neben ihr nieder und hörte ernsthaft zu. »Ja?«
»Wir können offensichtlich Lady Vorpatril und das Baby nicht mit uns nehmen. Und wir können sie nicht hier zurücklassen. Wir haben für Vordarians Sicherheitsleute fünf Leichen und einen brennenden Bodenwagen zurückgelassen. Sie werden diese Gegend hier gründlich durchsuchen. Aber noch für eine kleine Weile werden sie nach einer sehr schwangeren Frau suchen. Wir müssen uns trennen.«
Er füllte einen Moment des Zögerns mit einem Bissen Sandwich. »Werden Sie dann mit ihr gehen, Mylady?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muß mit dem Residenzteam gehen. Und wenn nur deshalb, weil ich die einzige bin, die sagen kann: Das ist jetzt unmöglich, es ist Zeit aufzugeben. Drou ist absolut notwendig, und ich brauche Bothari.« Und auf eine seltsame Weise braucht Bothari mich. »Damit bleiben Sie übrig.«
Seine Lippen preßten sich bitter zusammen. »Wenigstens würde ich Sie dann nicht langsamer machen.«
»Sie sind nicht die letzte Wahl«, sagte sie scharf. »Ihre Findigkeit hat uns nach Vorbarr Sultana hineingebracht. Ich glaube, Ihre Findigkeit kann Lady Vorpatril herausbringen. Sie sind ihre beste Chance.«
»Aber das ist, als liefen Sie in die Gefahr hinein, und ich laufe weg.«
»Eine gefährliche Illusion. Kou, denken Sie nach. Wenn Vordarians Schläger sie wieder fangen, werden sie keine Gnade mit ihr haben, Auch nicht mit Ihnen, und besonders nicht mit dem Baby. Es gibt da kein ›sicherer‹. Nur tödliche Notwendigkeit, und Logik, und die absolute Notwendigkeit, Ihren Kopf zu behalten.«
Er seufzte. »Ich werde es versuchen, Mylady.«
»Versuchen ist nicht genug. Padma Vorpatril hat ›versucht‹. Verdammt noch mal, Sie müssen Erfolg haben, Kou!«
Er nickte langsam. »Jawohl, Mylady.«
Bothari ging weg, um Kleidung für Kous neue Rolle als armer junger Ehemann und Vater zu organisieren. »Kunden lassen immer Sachen zurück«, bemerkte er, Cordelia fragte sich, was für Straßenkleidung er hier für Lady Vorpatril finden könnte. Kou brachte Lady Vorpatril und Drou Essen. Er kehrte mit einem sehr düsteren Ausdruck auf seinem Gesicht zurück und ließ sich wieder neben Cordelia nieder.
Nach einer Weile sagte er: »Ich glaube, ich verstehe jetzt, warum Drou so besorgt war darüber, ob sie schwanger war.«
»Wirklich?«, sagte Cordelia.
»Lady Vorpatrils Schwierigkeiten lassen meine … ziemlich klein aussehen. Gott, sah das schmerzhaft aus.«
»Mm. Aber der Schmerz dauert nur einen Tag.« Sie rieb ihre Narbe.
»Oder ein paar Wochen. Ich glaube nicht, daß es das ist.«
»Was ist es dann?«
»Es ist … ein transzendentaler Akt. Leben machen. Ich dachte darüber nach, als ich mit Miles ging. ›Durch diesen Akt bringe ich einen Tod in die Welt.‹ Eine Geburt, ein Tod, und all der Schmerz und all die Willensakte dazwischen. Ich verstand bestimmte orientalische mystische Symbole wie die Todesmutter, Kali, nicht, bis ich erkannte, es war überhaupt nicht mystisch, nur blanke Tatsache. Ein sexueller ›Unfall‹ im barrayaranischen Stil kann eine Kette von Kausalität beginnen, die bis zum Ende der Zeiten nicht aufhört. Unsere Kinder verändern uns … ob sie leben oder nicht. Obwohl euer Kind diesesmal sich als bloße Schimäre herausstellte, war Drou von dieser Veränderung berührt. Waren Sie es nicht auch?«
Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich dachte nicht über all dies nach. Ich wollte nur normal sein. Wie andere Männer.«
»Ich denke, Ihre Instinkte waren in Ordnung. Sie sind nur nicht alles. Glauben Sie nicht, Sie könnten Ihre Instinkte und Ihren Intellekt einmal dazu bringen, zusammenzuarbeiten, anstatt gegeneinander?«
Er schnaubte. »Ich weiß nicht. Ich weiß nicht … wie ich jetzt zu ihr durchkomme. Ich habe gesagt, daß es mir leid tut.«
»Es funktioniert nicht zwischen euch beiden, nicht wahr?«
»Nein.«
»Wissen Sie, was mich am meisten beschäftigt hat, auf der Reise hierher?«, sagte Cordelia.
»Nein …«
»Ich konnte nicht Adieu zu Aral sagen. Falls … irgend etwas mir — oder auch ihm — zustößt, dann wird etwas zwischen uns hängen bleiben, unentwirrt. Und es wird keine Möglichkeit mehr geben, das richtigzustellen.«
»Mm.« Er kroch noch ein bißchen mehr in sich hinein, wie er da in den Sessel gesunken dasaß.
Sie dachte ein bißchen nach. »Was haben Sie versucht außer ›Es tut mir leid‹? Was halten Sie von: ›Wie geht es dir?‹, ›Ist alles in Ordnung?‹, ›Kann ich helfen?‹, ›Ich liebe dich‹, das ist ein Klassiker. Wörter aus wenigen Silben. Meistens Fragen, wenn ich jetzt darüber nachdenke. Zeigt, daß man Interesse hat, ein Gespräch zu beginnen, nicht wahr?«
Er lächelte traurig: »Ich glaube nicht, daß sie überhaupt noch mit mir sprechen will.«
»Nehmen wir mal an«, sie lehnte ihren Kopf zurück und starrte ohne zu sehen den Korridor hinab, »nehmen wir mal an, die Dinge hätten in jener Nacht nicht eine solche falsche Wendung genommen. Nehmen wir mal an, Sie wären nicht in Panik verfallen. Nehmen wir mal an, der Idiot Vorhalas hätte Sie nicht mit seiner kleinen Horrorshow unterbrochen.« Da war ein Gedanke. Zu schmerzlich, dieses Wäre-vielleicht-nicht-gewesen, »Kehren wir zum Start zurück. Da wart ihr, glücklich schmusend.« Aral hatte dieses Wort benutzt, ›schmusen‹. Es schmerzte auch zu sehr, gerade jetzt an Aral zu denken. »Ihr trennt euch als Freunde, Sie wachen am nächsten Morgen auf mit … hm … Schmerzen von unerwiderter Liebe … was geschieht dann als nächstes, auf Barrayar?«
»Ein Vermittler.«
»So?«
»Ihre Eltern, oder meine, würden einen Vermittler engagieren. Und dann würde man, na ja, die Dinge arrangieren.«
»Und was tun Sie?«
Er hob die Schultern. »Pünktlich zur Hochzeit erscheinen und die Rechnung zahlen, nehme ich an. Tatsächlich zahlen die Eltern die Rechnung.«
Kein Wunder, daß der Mann in Verlegenheit war. »Wollten Sie eine Hochzeit? Nicht nur einfach vögeln?«
»Ja! Aber … Mylady, ich bin nur ein halber Mann, an guten Tagen. Ihre Familie würde mich bloß anschauen und dann lachen.«
»Haben Sie je ihre Familie getroffen? Haben sie Sie getroffen?«
»Nein …«
»Kou, hören Sie auf sich selbst?«
Er blickte ziemlich beschämt drein. »Nun ja …«
»Ein Vermittler. So, so.« Sie stand auf.