»Wohin gehen Sie?«, fragte er nervös.
»Vermitteln«, sagte sie bestimmt. Sie ging den Korridor hinab bis zu Lady Vorpatrils Tür und steckte den Kopf hinein. Droushnakovi saß da und beobachtete die schlafende Frau. Zwei Biere und die Sandwiches befanden sich unberührt auf einem Tisch neben dem Bett.
Cordelia schlüpfte hinein und schloß sanft die Tür. »Wissen Sie«, murmelte sie, »gute Soldaten lassen sich nie eine Chance für Essen oder Schlaf entgehen. Sie wissen nie, zu wieviel Dienst sie gerufen werden, bevor sie wieder eine Chance haben.«
»Ich bin nicht hungrig.« Auch Drou hatte einen nach innen gerichteten Blick, als wäre sie in einer Falle in sich selbst gefangen.
»Wollen Sie darüber sprechen?«
Drou machte ein unsicheres Gesicht und bewegte sich vom Bett weg zur einem kleinen Sofa in der anderen Ecke des Zimmers.
Cordelia setzte sich neben sie. »Heute nacht«, sagte Drou langsam, »war ich zum erstenmal in einem echten Kampf.«
»Sie haben es gut gemacht. Sie haben Ihre Stellung gefunden, Sie haben reagiert …«
»Nein.« Droushnakovi machte eine bittere Geste in der Art eines Handschlags. »Das tat ich nicht.«
»So? Mir erschien es gut.«
»Ich bin um das Haus gerannt — habe die beiden Sicherheitsleute betäubt, die an der Hintertür warteten. Die haben mich gar nicht gesehen. Ich habe meine Stellung an der Hausecke eingenommen. Ich beobachtete diese Männer, wie sie Lady Vorpatril auf der Straße quälten. Sie haben sie beschimpft und begafft und herumgestoßen und an ihr herumgefummelt … es machte mich so zornig, ich nahm meinen Nervendisruptor. Ich wollte sie töten. Dann begann das Feuer. Und … ich zögerte! Und deshalb starb Lord Vorpatril. Mein Fehler …«
»O je, Mädchen! Der Kerl, der Padma Vorpatril erschoß, war nicht der einzige, der auf ihn zielte. Padma war so voll von Penta und so verwirrt, daß er nicht einmal Deckung suchte. Sie müssen ihm eine doppelte Dosis gegeben haben, um ihn zu zwingen, daß er sie zu Alys zurückführt. Er hätte genauso leicht durch einen anderen Schuß sterben oder in unser eigenes Kreuzfeuer hineintappen können.«
»Sergeant Bothari hat nicht gezögert«, sagte Droushnakovi ausdruckslos.
»Nein«, stimmte Cordelia zu.
»Sergeant Bothari verschwendet auch keine Energie mit … Mitleid für den Feind.«
»Nein. Tun Sie das?«
»Mir wird übel dabei.«
»Sie töten zwei völlig fremde Menschen und erwarten, sich dann fröhlich zu fühlen?«
»Bothari tut es.«
»Ja, Bothari genoß es. Aber Bothari ist kein normaler Mann, nicht einmal nach barrayaranisehen Maßstäben. Trachten Sie danach, ein Monster zu sein?«
»Sie nennen ihn ein Monster!«
»O ja, aber er ist mein Monster. Mein guter Hund.« Sie hatte immer Schwierigkeiten, Bothari zu erklären, manchmal sogar sich selber gegenüber. Cordelia fragte sich, ob Droushnakovi den in der Geschichte der Erde wurzelnden Ursprung des Ausdrucks Sündenbock kannte. Das Opfertier, das alljährlich in die Wildnis geschickt wurde, um die Sünden der Gemeinschaft davonzutragen … Bothari war sicherlich ihr Lasttier, sie sah klar, was er für sie tat. Sie war sich weniger sicher, was sie für ihn tat, außer daß er es verzweifelt wichtig zu finden schien. »Ich zum Beispiel bin froh, daß Sie betroffen sind. Zwei pathologische Killer in meinem Dienst — das wäre zu viel. Bewahren Sie sich diesen Ekel, Drou.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich denke, daß ich vielleicht den falschen Beruf habe.«
»Vielleicht. Vielleicht nicht. Denken Sie daran, was für eine monströse Sache eine Armee aus lauter Botharis wäre. Jeder gewaltausübende Arm einer Gemeinschaft — Militär, Polizei, Sicherheitsdienst — braucht Leute für sich, die das notwendige Übel ausführen können, aber dadurch nicht übel werden. Nur das Notwendige tun, und nicht mehr. Die Voraussetzungen immer in Frage stellen, das Abrutschen in Grausamkeiten stoppen.«
»Die Art und Weise, wie dieser Oberst vom Sicherheitsdienst den zotigen Korporal zurechtwies.«
»Ja. Oder wie der Leutnant den Oberst zur Rede stellte … Ich wünschte mir, wir hätten ihn gerettet«, seufzte Cordelia.
Drou blickte finster in ihren Schoß.
»Kou dachte, Sie seien böse auf ihn«, sagte Cordelia.
»Kou?« Droushnakovi schaute verwirrt auf. »Ach ja, er war gerade hier. Wollte er etwas?«
Cordelia lächelte. »Das ist typisch Kou, sich vorzustellen, daß all Ihr Unglück ihn zum Mittelpunkt hat.« Ihr Lächeln verschwand. »Ich werde ihn mit Lady Vorpatril wegschicken, er soll versuchen, sie und das Baby hinauszuschmuggeln. Wir werden getrennte Wege gehen, sobald sie laufen kann.«
In Drous Gesicht erschien Sorge. »Er wird in schrecklicher Gefahr sein. Vordarians Leute werden wütend sein, daß sie sie und den jungen Lord heute nacht verloren haben.«
Ja, es gab noch einen Lord Vorpatril, der Vordarians genealogische Berechnungen stören könnte, nicht wahr. Ein verrücktes System, das ein neugeborenes Kind als tödliche Gefahr für einen erwachsenen Mann erscheinen ließ. »Es gibt für niemand Sicherheit, solange dieser üble Krieg nicht beendet ist. Sagen Sie mir: Lieben Sie Kou noch? Ich weiß, Sie sind über Ihre anfängliche romantische Verliebtheit schon hinweg. Sie sehen seine Fehler. Er ist egozentrisch, hat einen Spleen mit seinen Verletzungen und macht sich schreckliche Sorgen über seine Männlichkeit. Aber er ist nicht dumm. Es gibt Hoffnung für ihn. Er hat ein interessantes Leben vor sich im Dienste des Regenten.« Vorausgesetzt, sie alle überlebten die nächsten achtundvierzig Stunden. Es war gut, in ihren Leuten ein leidenschaftliches Verlangen nach Leben zu wecken, dachte Cordelia.
»Wollen Sie ihn?«
»Ich bin … nun an ihn gebunden. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll … ich gab ihm meine Jungfräulichkeit. Wer sonst würde mich wollen? Ich würde mich schämen …«
»Vergessen Sie das! Wenn wir dieses Unternehmen hinter uns bringen, dann werden Sie mit so viel Ruhm überhäuft, daß die Männer Schlange stehen werden, um Sie umwerben zu dürfen. Sie werden die Wahl haben. In Arals Haus werden Sie die Chancen haben, die Besten zu treffen. Was wollen Sie? Einen General? Einen kaiserlichen Minister? Einen jungen Vor-Lord? Einen Botschafter auf einem anderen Planeten? Ihr einziges Problem wird die Wahl sein, da die barrayaranische Sitte knausrigerweise Ihnen nur einen Ehemann auf einmal erlaubt. Ein schwerfälliger junger Leutnant hat nicht die geringste Chance, mit all diesen eleganten reifen Herren zu konkurrieren.«
Droushnakovi lächelte ein bißchen skeptisch über die Vision, die Cordelia da malte. »Wer sagt, daß Kou nicht eines Tages selber ein General sein wird?«, sagte sie sanft. Sie seufzte und zog die Stirn in Falten. »Ja, ich will ihn. Aber … ich nehme an, ich habe Angst, daß er mich wieder verletzen wird.«
Cordelia dachte darüber nach. »Vielleicht. Aral und ich verletzen einander fortwährend.«
»O nein, nicht Sie beide, Mylady! Sie erscheinen so, so vollkommen.«
»Denken Sie mal nach, Drou. Können Sie sich vorstellen, in welcher geistigen Verfassung Aral genau in dieser Minute ist, wegen meiner Taten? Ich kann es. Ich tue es.«
»Oh.«
»Aber Schmerz … erscheint mir ein unzureichender Grund zu sein, das Leben nicht zu umarmen. Totsein ist ganz schmerzlos. Schmerz kommt wie die Zeit einfach so, trotz allem. Die Frage ist, welche glorreichen Augenblicke Sie dem Leben abgewinnen können, zusätzlich zum Schmerz.«
»Ich weiß nicht sicher, ob ich dem folge, Mylady. Aber … ich habe ein Bild, in meinem Kopf. Von mir und Kou, an einem Strand, ganz allein. Es ist so warm. Und wenn er mich anschaut, dann sieht er mich, sieht wirklich mich, und liebt mich …«
Cordelia schürzte ihre Lippen. »Ja … das genügt. Kommen Sie mit mir.«
Das Mädchen stand folgsam auf. Cordelia führte sie zurück in den Korridor, plazierte mit sanfter Gewalt Kou am einen Ende des Sofas, setzte Drou ans andere und ließ sich zwischen beide plumpsen. »Drou, Kou hat Ihnen ein paar Dinge zu sagen. Da Sie beide anscheinend verschiedene Sprachen sprechen, hat er mich gebeten, seine Dolmetscherin zu sein.«