»Also: Ins Materiallager soll Ordnung gebracht werden. Ich will nicht jede Liste prüfen müssen. Traust du dir das zu?«
»Gewiß.«
»So?« Rabirius glättete eine Wachstafel und reichte sie dem Sklaven. »Beweise das! Schreib: >Im Bestand befinden sich fünfzehn Bündel zu je vierzig Nägeln, also und dann rechne aus, wieviel Nägel das sind!«
Wie der Gefangene den Stilus anpackte, hielt ihn wohl niemand. Es war, als wenn sämtliche Fingerknochen gebrochen und falsch verheilt wären. Rabirius folgte der Niederschrift mit gespannter Miene. Nach einem Blick auf die Tafel nickte er: »Stimmt, sechshundert. Deine Schrift könnte sauberer sein.«
Marcus rang nach Luft. Er vermochte ein paar Worte und seinen Namen zu kritzeln. Rechnen grenzte für ihn an Hexerei. Wenn das Scheusal neben ihm so etwas zusammenzählen konnte...Alle Achtung, bei Mithras! Zum Glück war der Kerl bloß ein Sklave.
Corellius’ mathematische Fähigkeiten reichten kaum weiter. Er fragte sich, ob der Provinzialsekretär so gut rechnen könne, und verneinte es im gleichen Moment. Fast schade, daß so ein Wesen bloß Sklave war. Nun, unter dem nachsichtigen Baumeister würde es ihm gut gehen falls er es nicht gerade mit den zwei anderen Mächtigen verdarb.
Rabirius kratzte sich das Kinn und dachte nach. Unerwartet wandte er sich dem Hauptmann zu. »Gerade fällt mir etwas ein, Centurio. Ich besitze ein Elixier, damit halte ich uns« er bewegte unbestimmt die Hand »halbwegs gesund. Womöglich steht in meinen Aufzeichnungen, ob es auch bei bösem Husten hilft. Erinnere mich notfalls daran!«
»Herr...? Danke, Herr!« Wer den Baumeister kannte, der wußte: Das war wie ein gesiegeltes Versprechen. Rabirius pflegte selbst Sklaven gegenüber das gegebene Wort zu halten. Diese unrömische Art Tribun Septimus Crusius etwa war das genaue Gegenteil mußte in seiner griechischen Erziehung begründet sein. Viele lächelten darüber.
Inzwischen hatte Astris den Tisch abgeräumt und gesäubert. Stumm und mit niedergeschlagenen Augen wartete sie abseits, auf den Lippen deutlich sichtbar eine Frage.
Rabirius winkte sie zu sich: »Was gibts?«
»Hast du Befehle für mich, Herr?«
»Keine, mein Kind. Ich gehe zur Baustelle hinüber falls jemand nach mir fragen sollte. Macht euch nett zurecht. Ich habe Armspangen bestellt; sucht euch etwas aus, wenn der Schmied vorbeikommt. Zu Mittag bin ich zurück. Ob ein Gast mit mir ißt, wird sich zeigen. Ich lasse es euch wissen. Du,
Legionär... Marcus? Marcus, folgst mir zur Baustelle und bewachst den Sklaven. Das ist ja keine schwere Aufgabe. Was hättet ihr sonst tun sollen?«
Corellius hustete wieder. »Marcus gehört zu meiner zweiten Gruppe. Sie absolviert nach der Wache Geländeläufe in voller Rüstung. Befehl des Tribuns.«
»Vollkommen klar. Ich werde meinen Adjutanten ein bißchen länger beanspruchen. Auf, Freunde!«
Natürlich ging der Architekt voran, in gebührendem Ab stand folgte der Sklave. Marcus bildete den Schluß. Corellius verstaute gemächlich noch ein belegtes Brot in der Umhängetasche und prüfte den Sitz seiner Waffen. Nachher wollte er ins Haus des Wachkommandos: Ruhe bis zur nachmittäglichen Befehlsausgabe.
Draußen empfing sie Äliacums Nebel. Dunstfetzen schwebten, zwischen den gerüstumrankten Pfeilern und verschwanden im Grau. Schatten bewegten sich, unklar klangen Rufe. Man arbeitete.
Der Wachposten am Zaun legte die Hand an den Schwertgriff. Es war dies der kleine Salut. Genaugenommen stand nicht einmal er dem Zivilisten Rabirius zu, aber die Legionäre salutierten trotzdem.
Auf der Baustelle herrschte wie gewöhnlich Unruhe. Ein Aufseher schrie mehreren Sklaven zu, sie sollten bestimmte Ziegel sortieren und stapeln, und anderen befahl er, sie sogleich die Leitern hinauf zu den Pfeilern zu tragen, wo gemauert wurde. Die Maurer Freie aus Äliacum und der Umgebung studierten ihre Tagesaufträge und ignorierten stolz die hastenden Sklaven.
Einen Steinwurf abseits der Fluchtlinie des Aquädukts stand ein Holzbau, dreißig Schritte lang und etwa acht breit. Ausgebleichte Zelte schlossen sich an. Der schläfrige Legionär vor der Baracke nahm Haltung an.
»Gembala schon drin?«
»Ja, aber vor allem der gnädige Herr Sekretär Faustus.«
Rabirius runzelte die Stirn und raffte den Vorhang. Ohne um Erlaubnis zu fragen, trat er ein und wandte sich seitwärts ins erste Zimmer. Mehr sah man von draußen nicht.
»Ich grüße dich, Provinzialsekretär«, klang es gedämpft zu den Wartenden. Selbst ein begriffsstutziger Mensch mußte die geringe Freundlichkeit hinter den Worten heraushören. »Inventur siebzehn?«
»Selbstverständlich, Baumeister. Kontrolle ist das beste Vertrauen. Es geht um die Bestände. Man erwartet von mir Aufschluß über gewisse Differenzen...«
»Differenzen? Man?«
»Dem gnädigen Herrn Statthalter in Tarraco bin ich verantwortlich«, erwiderte Faustus herablassend. Ein >... und nicht dir!< schwebte unausgesprochen in der Luft. »Jeden falls sieht es derzeit so aus, als ob mindestens hundert Bau klammern fehlen. Schon wieder ein Manko! Manko sieb zehn!«
Rabirius’ Antwort blieb unverständlich. Marcus schnaufte. Ganz Äliacum wußte, daß der Römer so sparsam wie sorgfältig baute. Die Maurer vergötterten ihn, denn seit seiner Amtsübernahme hatte es nur drei folgenschwere Verletzungen gegeben. Vordem waren in der gleichen Spanne vier Freie und elf Arbeitssklaven umgekommen, die bösen Wunden unzählbar gewesen. Diebstahl? Die Diebe saßen woanders.
Immer wieder dasselbe: Dieser Servius Rabirius besaß zu viel Herz für einen Römer, zuviel Nachsicht, zuwenig Härte. Zweifellos hatte der Mann keine Truppenkarriere durchlaufen. Dann nähme er schwerlich Rücksicht auf Untergebene. Reiche und Gebildete vermochten indes die Schinderei der unteren Dienstgrade zu überspringen gerade bei den Sondereinheiten einer
Legion war das leicht möglich. Centurio ehrenhalber war kein seltener Titel.
Voller Verachtung musterte der Legionär den Sklaven Salmo, Schreiben konnte das Aas? Rechnen gar? Was war er wohl vor der Gefangennahme gewesen? Denn wie ein geborener Sklave verhielt sich das Scheusal nicht. Ein Legionär sah das.
»Kommt rein!«
»Los, du da!«
Vom dunklen Korridor zweigten beiderseits Räume ab. In der ersten Tür links stand Rabirius, gegen den Pfosten gelehnt. Im Zimmer hinter ihm hockte der Sklave Gembala, Hispanier von Geburt, lahm seit einem Gerüsteinsturz und zu keiner praktischen Arbeit mehr verwertbar, Marcus kannte ihn genau. Gembalar gehörte zur allseits unbeliebten Sklavenaristokratie des Baus. Faustus hatte sich offenbar soeben entfernt.
Der schmutzige Stoff vor dem Fenster schluckte das wenige Licht, das der Nebel noch durchgelassen hatte. Außerdem lag ein drückend muffiger Geruch in der Luft. Das Bauholz der Baracke konnte nicht trocknen und begann zu faulen.
»Setz dich!« knurrte der Architekt. »Zur Sache. Gembala, der Salmo dort geht dir von heute an zur Hand. Teilt die Arbeit selber auf, aber Jupiters Blitz trifft euch, wenn fortan noch etwas fortkommt. Stimmt, du hast nichts gestohlen. Du nicht. Aber bei deiner Abrechnungsweise...«
Selbst im Halbdunkel sah man den Hispanier rot anlaufen. Er fuchtelte mit den Armen.
»Schon gut. Daß du es nicht besser kannst, ist mir klar. Soll ich das Herrn Faustus sagen? Oder dem Tribun? Nebenbei: Du könntest bei der Gelegenheit dazulemen. Salmo ist kein Dummer. Du willst doch Material Verwalter bleiben?« Er drehte sich halb um. »Hast du verstanden, Salmo? Bei Arbeitsbeginn kommst du mit Gembala hierher. Der diensthabende Offizier entsiegelt die Tür. Ihr gebt die Werkzeuge, und das andere aus
und führt die Listen darüber. Aber exakt! Halte dich an deinen Kameraden. Er kennt alles. Abends holt man euch wieder ab. Klar?«
»Gewiß«, knarrte die fremdartige Stimme.
»Gut, das wäre vorerst alles. Gembala, bring endlich Ordnung in die verfluchten Bauklammern. Ich habe keine Lust, deinetwegen angepöbelt zu werden. Du weißt wohl Bescheid. Du, Salmo, kommst mit in mein Büro, damit ich dich einweise.«
Unschlüssig erhob sich auch der Legionär. Als Adjutant...
Rabirius lachte. »Warte an der Haustür. Der Sklave wird schon nicht davonrennen.«
Wohin auch? dachte Marcus, legte die Hand aufs Schwert und ging wortlos hinaus.
Das Privatbüro des Baumeisters, ein nur mäßig großes, schmuckloses Zimmer, lag am anderen Ende des Flurs. Die beiden Fenster wiesen auf das Gerüst am Pfeiler zwanzig. Um die Ordnung im Raum war es freilich schlecht bestellt. Überall lagen Planrollen und Täfelchen verstreut. Staub hätte schon mehrmals gewischt werden können.
Rabirius warf einen Blick in den Nebel und setzte sich auf ein Fensterbrett. »Zu uns! Woher bist du, Salmo?«
Der Sklave zögerte. Eigentlich war bereits das ein Vergehen, doch der Baumeister übersah es. Er betrachtete das Aufhellen der extrem dunklen Augen des Gefangenen und beobachtete auch, wie sich dessen Gesicht verzerrte.
Rabirius lächelte, aber es war etwas Gespanntes in seinem Wesen. »Nun?«
»Ich heiße Salmo und wurde bei Olisipo gefangengenommen.«
»Weiß ich. Von wo kamst du nach Olisipo?«
»Ich bin ein Schiffbrüchiger... von jenseits des Ozeans«, lautete die zögernd gegebene Antwort.
Rabirius schmunzelte. »Erzähle das einem Germanen vom Ostufer des Rheins, wo sie nur bis fünf zählen können! Nirgends auf der Welt leben Menschen wie du.«
»Jenseits des unbefahrbaren Meeres...«
». .. sind die Leute lediglich dunkelhäutiger als im Imperium; rotbraun, um es genau zu sagen. Stiehl mir nicht die Zeit. Was hat es mit dir auf sich?«
Deutlich nervös setzte Salmo zum Reden an, stockte, blickte dann entschlossen auf. »Ich muß wohl die Wahrheit sagen. Bloß, ob du sie verstehen kannst... Ich will dich damit nicht beleidigen, Herr, auch wenn... Ich bin schiffbrüchig, aber in einem ganz anderen Sinn. Das mit dem Ozean erzählte ich nur... Meine wirkliche Heimat ist nämlich unvorstellbar weit entfernt und auch woanders.«
»Du weißt ja wohl, wie lang ein Jahr ist. Wieviel Jähre braucht das Licht bis zu deiner Sonne?« fragte der Architekt, ohne seine Stimme zu heben.
Dem Sklaven verschlug es die Sprache. In seinem abartigen Gesicht stand unverkennbar Schrecken. »Herr! Woher weißt du...? Ich glaubte nicht, daß in diesem Land jemand von der Lichtgeschwindigkeit gehört hätte. Das ist doch unmöglich. Oder bist etwa auch du...?« Etwas wie ein Begreifen zuckte über die verzerrten Züge.
Der Baumeister nickte. »Erraten. Nur, daß alles anders zusammenhängt. Ganz anders. Aber so rasch kann ich dir das nicht erklären. Außerdem haben wir hier keine Ruhe. Ständig kommt man mit Anliegen zu mir. Darum kurz: Welche Hilfe brauchst du zuerst?«
Salmos Augen leuchteten auf wie eine rasch erblühende Blume. »Zu meiner Heimat kannst du mich sicher nicht bringen. Sonst: Eure Luft ist stickiger als die auf Zolkin. Trotzdem komme ich zurecht. Das Essen schmeckt abscheulich, scheint aber ungiftig zu sein. Jedenfalls habe ich noch keine Krankheit
an mir bemerkt. Vermutlich werde ich irgendwelche Mangelleiden bekommen. Ich bin Pilot und kein Arzt; ich kenne die Sternkonstellationen, die Gravitationsverhältnisse und meinen Navigationsrechner. Was weiß ich von der Biochemie einer anderen Welt?«
Das war keine Frage, auf die man antworten konnte.
»Ich habe zwar Medikamente für sämtliche kalkulierten Fälle bei mir«, überlegte Rabirius laut, »sonst wäre meine Mission unnötig riskant. Ob sie dir nützen können? Wohl kaum. Das Essen? Ich kann dich unter Vorwänden zu mir holen. Wir müssen sowieso eine Menge absprechen. Aber vielleicht sind die besseren Speisen für dich die gefährlicheren. Ein Notgelandeter aus einer anderen Welt! Wer konnte das voraussehen!« Er ging zur Tür. »Marcus!«
Der Soldat erschien. »Legionär Marcus wie befohlen zur Stelle.«
»Richte meinen Dienerinnen aus: Mittagessen für zwei. Was sie kochen, ist mir egal. Ich brauche dich nicht. Meinetwegen kannst du anschließend bis zum Wachwechsel dort bleiben. Dich darf bloß niemand sehen.«
»Zu Befehl.« Marcus strahlte. Einen halben Tag lang Ruhe! Für einen Legionär wog das so schwer wie eine Kanne Wein. Ein Happen mochte wohl für ihn abfallen, und falls er die Mädchen näher kennenlernte...
Er stiefelte vergnügt hinaus.