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Man stelle sich vor, was jener Scharlatan, der sich Priester nennt, unserer über alles geliebten Herrscherin zu weissagen erdreistete! Die Herrschaft der Zaren, so die Worte jenes impertinentesten unter den Kretins, werde in nicht allzu ferner Zukunft zu Ende gehen und der Letzte vom Stamme der Romanows ein Schicksal erleiden, welches an Grausamkeit nicht zu überbieten sei. Genau das waren seine Worte – Ihr habt Euch nicht verlesen, mein teurer Gemahl. Doch damit nicht genug. Aus dem Aschehaufen, den die Romanows hinterlassen würden – Aschehaufen, welch ungeheurer Frevel! –, werde ein Tyrann emporsteigen, wie ihn sich Ihre Majestät, die Anwesenden und das gesamte russische Volk nicht vorzustellen imstande wären. Dieser Tyrann, so Dmitri, werde Russland unter seine Knute zwingen, ohne Rücksicht auf Millionen von Menschen, die seiner Herrschaft zum Opfer fallen würden. Doch damit immer noch nicht genug. Nur wenige Jahre später werde neues Unheil über Mütterchen Russland kommen, aus dem Westen, von wo aus es sich wie eine Flut über unser Land ergießen würde. Schlimmer als die Tataren würden wilde Heerscharen über unsere Heimaterde hinwegfegen, sengend, mordend, plündernd und raubend. Nicht einmal das Bernsteinkabinett Ihrer Majestät, dies unvergleichliche, an Schönheit nicht zu überbietende Juwel, werde der Raffgier dieser Berserker entgehen und als Kriegsbeute außer Landes transportiert werden, um für immer vom Angesicht der Erde zu verschwinden. Und so frage ich Euch, mein über alles geliebter Gemahclass="underline" Hat man je etwas Absurderes, Frevelhafteres und Lästerlicheres gehört als das wirre Geschwätz dieses hergelaufenen Wanderpredigers, der sich Dmitri Michailowitsch Kapotkin nennt? Hat man je etwas Irrwitzigeres, Abwegigeres und Törichteres gehört als die Behauptung, das Bernsteinkabinett werde in die Hände ausländischer, mit den Mächten des Bösen in Verbindung stehender Invasoren fallen? Verzeiht mir, lieber Gemahl, wenn ich mich derart echauffiere, geht doch das, was mir gestern Abend zu Ohren kam, völlig über meinen und – wie ich annehme – auch über Euren Horizont. Was meine Herrin betraf, nahm sie es mit der ihr eigenen Gelassenheit, ließ diesen Schmutzfink gewähren und zog sich in Begleitung von Orlow alsbald in ihre Gemächer zurück. Als ihre Hofdame tat ich es der Zarin gleich, wenngleich ich gestehen muss, dass ich nach dem Zubettgehen kein Auge zugetan habe.

Soweit mein Bericht, teuerster Gemahl. Falls möglich, lasst bald von Euch hören, damit mir wenigstens ein bisschen Trost zuteilwerden möge.

Irina, Eure Euch in Liebe zugetane Gemahlin

3

Puschkin, vormals Zarskoje Selo | frühmorgens

»Die Deutschen, Genosse Direktor!«, rief ihm seine Kollegin schon von Weitem zu. »Die faschistischen Invasoren, hören Sie nicht?«

Und ob er es hörte. Der Kustos[9] des Katharinenpalastes, knapp 30, schmallippig und bebrillt, senkte den Blick und fuhr sich mit den Handkuppen über die hohe Stirn. Bei dem Lärm, den die Granaten, Haubitzen und Mörser der Heeresgruppe Nord veranstalteten, platzte einem glatt das Trommelfell. Höchste Zeit, sein Heil in der Flucht zu suchen.

»Die Deutschen, Anatoli Michailowitsch, die Deutschen!«

Der Kustos seufzte. »Ich bin weder schwerhörig noch taub noch lebensmüde, Genossin«, versicherte er seiner Assistentin, einer bildhübschen, noch dazu äußerst begabten Kunsthistorikerin. »Das können Sie mir getrost glauben.«

»Aber warum … warum bringen Sie sich nicht in Sicherheit?«

»Und wer passt dann auf das Zimmer auf?«, ereiferte sich der Kustos, dem der Hemdkragen beinahe die Luft abschnürte, strich über die Empire-Kommode zu seiner Rechten und bedeutete den verbliebenen Bediensteten, das Möbelstück hinauszutragen. »Die Deutschen vielleicht?«

Die brünette Leningraderin, aufgrund ihrer Figur für eine Karriere als Balletttänzerin geradezu prädestiniert, schüttelte ratlos den Kopf. »Weiß ich nicht, Genosse«, flüsterte sie geknickt, den Geschützlärm der Panzergruppe 4 im Ohr, der mit jeder Minute, die sie hier vertrödelten, näher zu kommen schien. »Was ich allerdings weiß, ist, dass Sie alles getan haben, um dieses Zimmer vor größerem Schaden zu …«

Ein Geschoss, das unweit des Puschkindenkmals einschlug, ließ die Kunsthistorikerin jäh verstummen. Ganz anders der Konservator, den der Gefechtslärm offensichtlich kaltließ. »Das sagt sich so leicht, Genossin«, sinnierte er, augenscheinlich ohne jeden Sinn für die Gefahr, in der sie beide schwebten. Und murmelte betrübt: »Das Bernsteinzimmer, ausgerechnet das Bernsteinzimmer. Nicht auszudenken, was passiert, wenn es den Deutschen in die Hände fällt.«

»Sieht so aus, als müssten wir uns damit abfinden«, erwiderte die Kunsthistorikerin lapidar, machte eine weit ausholende Handbewegung und folgte dem Blick des Kustos, der sich von dem leer geräumten, mit Pappe beklebten Zimmer partout nicht losreißen konnte. »Seien wir ehrlich, Genosse: Was zu tun war, haben wir getan. Wir haben die Bernsteinsammlung verpackt, die Gobelins, das Sèvresporzellan. Die Fenster mit Brettern vernagelt, das Parkett mit Teppichen und Sand geschützt, einen Wassertank samt Feuerlöscher bereitgestellt – ich weiß nicht, was wir beide uns vorzuwerfen hätten.« Die zierliche Russin, über deren Madonnengesicht unter den Museumsbediensteten allerlei frivole Witze kursierten, trippelte nervös auf der Stelle. »Kopf hoch, Anatoli Michailowitsch«, redete sie dem in sich gekehrten Bernsteinexperten gut zu. »Wenn der Krieg vorbei ist, werden wir hier wieder Ordnung schaffen.«

Die Antwort war ein desillusioniertes Schnauben, und während der Kustos ein Bernsteinfragment betrachtete, das er soeben aufgehoben hatte, bildeten sich Sorgenfalten auf seiner Stirn. »Wenn es dann noch da ist, Anna Semjonowa«, flüsterte er, nachdem in unmittelbarer Nähe eine weitere Granate detoniert war. »Wenn es dann noch da ist.«

»Sie glauben doch nicht etwa, dass die Deutschen uns das antun werden?«

Die Lippen des anerkannten Fachmannes kräuselten sich, auf seinem Mund erschien ein sibyllinisches Lächeln. »Auszuschließen ist es jedenfalls nicht«, versetzte er in nachdenklichem Ton. »Wenn man bedenkt, was sich allein dieser Göring so alles unter den Nagel gerissen hat, werden die Nazis bezüglich des Bernsteinzimmers wohl kaum irgendwelche Skrupel haben.«

»Aber es war doch ein Geschenk, vom preußischen König an Zar …«

»Peter den Großen, ich weiß«, vollendete der Kustos, runzelte die Stirn und sah seine Assistentin amüsiert an. »Wie Sie sich sicher vorstellen können, habe ich meine Hausaufgaben gemacht.«

»Verzeihung, Genosse, ich wollte Sie nicht kränken.«

»Was heißt hier ›kränken‹, Anna Semjonowa«, warf der Angesprochene mit hintergründigem Schmunzeln ein. »Dafür sind doch wohl die Deutschen zuständig. Wie gesagt: Bedenkt man, welche Schätze den faschistischen Invasoren bis jetzt in die Hände gefallen sind, besteht kein Grund zur Annahme, dass sie vor dem achten Weltwunder haltmachen werden.«

»Und was …«, flüsterte die sichtlich betroffene Kunsthistorikerin, während sie der Kustos behutsam Richtung Ausgang bugsierte, »was wird dann geschehen?«

»Zunächst einmal, Anna Semjonowa, wird unser aller Führer, der Genosse Stalin, den Krieg gewinnen müssen. Keine leichte Aufgabe, wie die vergangenen Wochen gezeigt haben.«

»Und danach?«

»Für den Fall, dass diese Utopie Wirklichkeit werden wird, Genossin, gibt es im Grunde zwei Möglichkeiten.«

»Welche denn?«

»Entweder wir bekommen das Bernsteinzimmer unversehrt zurück«, erwiderte der Kustos, drehte sich um und bedachte den Ort, der ihm mehr bedeutete als alles andere auf der Welt, mit einem wehmütigen Blick, »oder wir müssen noch mal ganz von vorn anfangen.«