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Als habe er alle Zeit der Welt, stieß sich der Mann im dunklen Anzug von der Häuserwand auf der gegenüberliegenden Straßenseite ab, schlenderte über die Fahrbahn und öffnete die Beifahrertür. Sydow war völlig überrumpelt, derart perplex, dass er den Motor abwürgte.

Juri Andrejewitsch Kuragin quittierte es mit einem Lächeln, schob seine Sonnenbrille nach oben und machte es sich auf dem Beifahrersitz bequem.

»Lust auf eine kleine Spritztour?«, fragte er, gerade so, als sei dies die normalste Sache der Welt. »Ich wette, Sie werden es nicht bereuen, Herr Kommissar.«

*

»Darf man fragen, was Sie mit mir vorhaben?«, fragte Sydow beim Überqueren der Mehringbrücke, nachdem sich Kuragin beharrlich ausgeschwiegen und den Rückspiegel während der gesamten Fahrt auch nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. »Nicht etwa, dass ich Ihnen …«

»Und ob Sie mir misstrauen, Herr Kommissar«, versetzte Kuragin mit der für ihn typischen Mischung aus Heiterkeit und Melancholie. Sogar bei knapp 100 Stundenkilometern erweckte er den Eindruck, dies alles sei nur ein Spiel für ihn, wenngleich Sydow klar war, unter welch ungeheurer Anspannung der Oberstleutnant des sowjetischen MGB stand. »Aber nichts für ungut – an Ihrer Stelle würde ich genauso denken.«

»Heißt das etwa, Sie sind fündig geworden?«

Kuragin bejahte und belauerte Sydow von der Seite. »Hand aufs Herz, Herr Kommissar – wissen Sie überhaupt, worauf Sie sich da eingelassen haben?«

»Ich denke schon«, gab Sydow trocken zurück. »Soll das etwa heißen, die Sache sei eine Nummer zu groß für mich?«

»Kommt ganz drauf an, wie viel Sie einstecken können«, wich Kuragin aus. »Und ob Sie in der Lage sind, es mit mehreren Gegnern gleichzeitig aufzunehmen.« Auf Sydows fragenden Blick hin wurde er etwas deutlicher: »Für den Fall, dass es ums Ganze geht.«

Sydow nahm es mit Gelassenheit, zumindest nach außen hin. »Haben Sie eine Ahnung, Kuragin«, entgegnete er, »was ich im Verlauf meiner fast zwanzigjährigen Tätigkeit in Diensten von Vater Staat alles über mich ergehen lassen … Mensch, pass doch auf, du Idiot!«

Es hätte nicht viel gefehlt, und der weinrote Laster vom Typ Mercedes-Benz L 3500, über dessen Ladefläche eine Plane gespannt war, wäre Sydow zum Verhängnis geworden. Das Überholmanöver, welches ihn zu einer Vollbremsung zwang, war derart waghalsig, dass er sich fragte, ob der Fahrer des Sechseinhalbtonners zu tief ins Glas geschaut hatte. Im Nachhinein, als er die Geschehnisse halbwegs verdaut hatte, war es Sydow nach wie vor ein Rätsel, wie er und Kuragin es geschafft hatten, die eigene Haut zu retten. Wäre die Fahrbahn in Höhe der Abzweigung Stresemannstraße um eine Idee rutschiger gewesen, hätte ihm seine Reaktionsschnelligkeit nichts genützt. So aber, nach einem heftigen Tritt auf die Bremse, kam er knapp zwei Meter hinter dem Lkw zum Stehen.

Gerade rechtzeitig, um erleichtert aufzuatmen, jedoch zu spät, um das, was sich vor seinen Augen abspielte, zu begreifen.

So kam es, dass er die dunkelblaue Limousine, die urplötzlich neben ihm aufgetaucht war, zunächst nicht bemerkte. Dafür war er noch viel zu sehr auf den Lkw fixiert, zu wütend, um die Falle, in die er und Kuragin geraten waren, zu erahnen. Wäre der MGB-Agent nicht einen Tick schneller als der Beifahrer des Ford Popular gewesen, hätte dies für Sydow das Ende bedeutet. Mit Sicherheit hätte der Beifahrer mit seiner Tokarew auf Sydows Schläfe gezielt, abgedrückt und ihm aus nächster Nähe eine Kugel durch den Kopf gejagt. Blitzschnell, kaltblütig und ohne mit der Wimper zu zucken. Es waren Bruchteile von Sekunden, die ihm das Leben retteten, vielleicht nur wenige Hundertstel. Und es war Kuragin, dem er es zu verdanken hatte.

Dieser hatte das Unheil kommen sehen, geahnt, dass sie in einen Hinterhalt geraten waren, und so schnell reagiert, dass sich Sydow hinterher wie ein Statist vorkam.

Obwohl er das freilich nicht war.

Der dunkelhaarige, mit einer Sonnenbrille getarnte Attentäter war nur eine Seite des Problems, das Szenario, welches sich nach seiner Liquidierung durch Kuragin entfaltete, hingegen wesentlich bedrohlicher. Kaum hatte Sydow die Blutspritzer auf seiner linken Schulter registriert, ging die Sache erst richtig los. Seit der Vollbremsung war erst wenig Zeit vergangen, als die Plane auf der Ladefläche des Mercedes abrupt zurückgeschlagen wurde. Sydow traute seinen Augen nicht. Keine drei Meter entfernt, in nahezu idealer Schussposition, ragte auf einmal eine mit Strumpfmaske und dunklem Ledermantel bekleidete und obendrein mit einer AK-47 bewaffnete Gestalt empor, ein siegesgewisses, nachgerade hämisches Grinsen im Gesicht. Der Maskierte schien sich seiner absolut sicher zu sein, ging mit einer Seelenruhe zu Werke, die auf Sydow wie eine Provokation wirkte. Damit nicht genug, lächelte er ihn zu allem Überfluss noch an, spreizte die Beine und nahm Kuragin ins Visier. Aus einem Grund, den vermutlich nicht einmal der MGB-Offizier selbst kannte, verharrte dieser wie gelähmt auf seinem Sitz, die Waffe schussbereit in der Hand.

Dies war der Punkt, an dem Tom Sydow in Aktion trat. Ohne dem Ford, der mit quietschenden Reifen Richtung Checkpoint Charlie davonraste, auch nur eine Sekunde Beachtung zu schenken, riss er die Tür auf, ging in Deckung und feuerte das Magazin seiner Walther PPK bis auf die letzte Patrone leer.

Es war das Motorengeräusch des Lasters, die Mischung aus Abgasen, Benzingestank und dem Geruch nach Blut, was Sydow wieder zur Besinnung brachte. Er hob den Kopf, gerade rechtzeitig, um Zeuge zu werden, wie der von Kugeln durchsiebte Maskierte die Kalaschnikow fallen ließ, die Arme weit von sich streckte und mit schmerzverzerrter Miene auf der Ladefläche des Mercedes L 3500 aufschlug. Fast gleichzeitig trat der Lkw-Fahrer aufs Gas und raste mit Höchstgeschwindigkeit davon.

»Na, Herr Kommissar –«, meldete sich Kuragin im gleichen Moment zu Wort, während er seine Tokarew mit gerunzelter Stirn verschwinden ließ und sich anschließend dem Sitz seiner Krawatte widmete, »verstehen Sie jetzt, was ich meine?«

Wieder hinter dem Steuer, hatte Sydow es auf einmal sehr eilig, legte den Gang ein und wollte die Verfolgung aufnehmen. »Was denn?«, fragte er gereizt, nachdem er den Motor abgewürgt und sich fast eine halbe Minute vergeblich bemüht hatte, ihn wieder anzulassen. »Meine Hochachtung, Kuragin – Ihre Ruhe würde ich gerne haben.«

»Was es heißt, sich mit mehreren Gegnern gleichzeitig anzulegen, meinte ich«, erläuterte der Geheimdienstler, der es vorgezogen hatte, Sydows Bemerkung einfach zu ignorieren. Kurz darauf sprang der Aston Martin endlich an. »Oder wollen Sie etwa behaupten, dies hier sei ein Routineeinsatz für Sie?«

»Routine oder nicht, ich wäre Ihnen wirklich dankbar, wenn Sie mir reinen Wein einschenken würden«, gab Sydow seinem Nebenmann zu verstehen, während er urplötzlich nach rechts abbog, um etwaige Verfolger zu irritieren. An der nächsten Kreuzung wiederholte er das Manöver und fuhr dieses Mal in die andere Richtung. Bis zum Checkpoint Charlie, dem an der Sektorengrenze gelegenen Kontrollpunkt, waren es höchstens noch 500 Meter, und allmählich fragte er sich, ob er im Eifer des Gefechts nicht ein bisschen zu weit gegangen war. »Sonst …«

»Wollen Sie den Fall aufklären oder nicht?«, unterbrach ihn Kuragin mit einer Vehemenz, die für Sydow gänzlich unerwartet kam.

»Natürlich – wieso?«

»Ein Vorschlag zur Güte: Was halten Sie davon, zur Abwechslung einmal über den eigenen Schatten zu springen?« Von der Lässigkeit, die Kuragin gewöhnlich zur Schau trug, war nichts mehr übrig geblieben, die sonst so souveräne Fassade begann zu bröckeln. »Zum Misstrauen besteht keinerlei Grund.«

»Man wird doch mal fragen dürfen, oder?«

»Selbstverständlich«, antwortete Kuragin und sah Sydow über die Ränder seiner Sonnenbrille hinweg an. »Um Sie nicht weiter auf die Folter zu spannen, Herr Kommissar: Aufgrund eines Zwischenfalls, den wir beide nicht ins Kalkül gezogen haben, bin ich gezwungen, kurzfristig umzudisponieren.« Bevor Sydow Einwände erheben konnte, wies Kuragin mit dem Daumen nach rechts. »Hier entlang, Herr Kommissar.«