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Daraufhin schloss er die Tür und eskortierte seine Assistentin zum Wagen.

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Berlin-Mitte, Psychiatrische Klinik der Charité, Charitéplatz | 04.40 h

Im schlimmsten Fall, dachte er, werden sie dich irgendwo verscharren. Oder deinen Leichnam in die Spree werfen. Oder, um ihre Spur zu verwischen, irgendwo aufknüpfen. Der Einfachheit halber am besten gleich hier, an den Gitterstäben.

Oder vielleicht im Park?

Wann, wo und wie auch immer: Er würde ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Er würde etwas tun, womit niemand rechnete. Etwas Unerwartetes, Überraschendes – Kompromittierendes. Er, das in die Enge getriebene Opfer, würde ihre Pläne durchkreuzen.

Hier und jetzt.

Der fragil wirkende, extrem kurzsichtige und viel zu blasse Patient in mittleren Jahren lächelte stillvergnügt vor sich hin. Zugegeben, letzten Endes würde er gegen seine Widersacher auf verlorenem Posten stehen. Das war ihm von Anfang an klar gewesen. Im Grunde schon seit dem Tag, an dem der Professor zum ersten Mal aufgekreuzt war. Der Mann, mit dem er im Krieg durch dick und dünn gegangen war.

Einer, der vor nichts zurückschrecken würde.

Auch davor nicht, ihn zu beseitigen.

Aber darüber brauchte er sich momentan keine Gedanken zu machen. Einmal gefasst, stand sein Entschluss fest. Ganz gleich, zu welcher Zeit, an welchem Ort und auf welche Weise man sich seiner sterblichen Überreste entledigen würde. Daran würden sämtliche Drohungen und Einschüchterungsversuche, ja nicht einmal die alten Zeiten etwas ändern.

Der Insasse von Zelle 5, trotz Verhör, Folter und zahlloser Schikanen kein gebrochener Mann, lachte verächtlich auf, griff in seine Brusttasche und betrachtete die Kapsel zwischen Daumen und Zeigefinger, an denen jeweils der Nagel fehlte, aus nächster Nähe. Bei ihrem Anblick empfand er klammheimliche Freude, weit davon entfernt, es sich noch einmal anders zu überlegen. Fünf Gramm Morphium, mehr als genug. Diese winzige Kapsel, gerade einmal ein paar Millimeter lang, würde ihn von sämtlichen Ängsten, Nöten und einer nicht enden wollenden Tortur befreien.

Von nun an bis in Ewigkeit.

Froh gelaunt wie schon lange nicht mehr, ließ der 33-jährige, kahl geschorene, knapp 1,80 Meter große Patient der psychiatrischen Abteilung der Berliner Charité die Kapsel wieder in seiner Brusttasche verschwinden, erhob sich und schlüpfte in seine Pantoffeln. Danach verrichtete er seine Morgentoilette. In all den Jahren, die er hier verbracht hatte, war er stets auf sein Äußeres bedacht gewesen. Die Frage, ob dies überhaupt einen Sinn ergab, war nicht aufgetaucht. Benjamin Kempa war nun einmal ein penibler Mensch. Und daran würde sich in der Stunde seines Todes nicht das Geringste ändern.

Knapp fünf Minuten später, im Licht der Deckenlampe, die ihn noch eine Spur blasser erscheinen ließ, war es schließlich so weit. Der entscheidende, von Kempa geradezu herbeigesehnte Moment war gekommen. Der gelernte und für unheilbar schizophren erklärte Ingenieur betrachtete sein Konterfei, rieb die graublauen Augen und hängte das Handtuch wieder an seinen Platz. Durch das Zellenfenster zu seiner Rechten flutete das Licht der Morgendämmerung, aber darauf verschwendete der spröde Dresdener keinen Blick. Heute, am 16. Juni, war sein Todestag. Je eher er seine Absicht in die Tat umsetzen würde, desto besser.

Im Begriff, sich wieder auf seine Pritsche zu legen, fiel Kempas Blick auf das Buch, welches neben ihm auf dem Nachttisch lag. Er kannte es fast auswendig, wie oft er es zur Hand genommen hatte, konnte er beim besten Willen nicht sagen. Genau genommen, wusste er nicht einmal, was genau ihn an seinem Inhalt so sehr faszinierte. Gehörte doch das, worum es sich in dem Buch drehte, unwiderruflich der Vergangenheit an. Einer Vergangenheit, an die er lieber nicht erinnert werden wollte.

Oder etwa doch?

Gegen seinen Willen und die Absicht, seinem Leben möglichst rasch ein Ende zu setzen, nahm der Insasse der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie das Buch zur Hand und blätterte es durch. Er wusste, was er tat, war sich im Klaren, dass sein sorgsam ausgetüftelter Plan dadurch in Gefahr geraten würde. In weniger als einer Viertelstunde, vielleicht schon früher, würde der Stationsarzt seine Runde machen. Spätestens bis dahin, so sein Kalkül, musste er sein Vorhaben in die Tat umgesetzt haben. Sonst wäre alles umsonst gewesen und die Chance, über seine Widersacher zu triumphieren, ein für alle Mal vertan.

Doch daran schien Kempa in diesem Moment keinen Gedanken zu verschwenden. »Der Stil des Bernsteinzimmers von Zarskoje Selo«, murmelte er halblaut vor sich hin, während sich sein Blick verklärte und an der gegenüberliegenden Zellenwand haften blieb, »ist ein Gemisch von Barock und Rokoko und ein wahres Wunder nicht nur durch den großen Wert des Materials, der kunstvollen Schnitzerei und der Leichtigkeit der Formen, sondern hauptsächlich durch den schönen, bald dunklen, bald hellen Ton des Bernsteins, der dem ganzen Zimmer einen unaussprechlichen Reiz verleiht.« Er kannte den Text auswendig, in der Tat. Wort für Wort, Zeile für Zeile, jedes einzelne Kapitel. Ausgerechnet er, der er sich mit dem Auswendiglernen stets schwergetan hatte. »Rohde, Alfred«, rezitierte der schmächtige Bergwerkexperte wie in Trance, »Bernstein. Ein deutscher Werkstoff. Seine künstlerische Verarbeitung vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. Erschienen in …«

Ein Geräusch auf dem Gang, allem Anschein nach die Schritte mehrerer Personen, katapultierte den Insassen von Zelle 5 wieder in die Gegenwart zurück, und ein nervöses Flackern trat in sein hohlwangiges Gesicht. Die aufkeimende Hektik von Benjamin Kempa währte indes nur kurz. Kaum lag das Buch wieder an Ort und Stelle, hatte er die Giftkapsel geschluckt, deren Morphingehalt ausgereicht hätte, um drei Erwachsene zu töten, und sich mit entspanntem Lächeln auf seine Pritsche sinken lassen.

Er würde ihre Pläne durchkreuzen, so oder so.

»Na, wieder bei Kräften?«, schnarrte der Stationsarzt, die Hände vor der Brust verschränkt. »Oder fühlen wir uns am Ende wieder mal nicht …«

»Kein Grund zur Sorge«, kam ihm Kempa zuvor, ein beseligtes Lächeln im Gesicht. »Mit meinen Wehwehchen ist es ein für alle Mal vorbei.«

»Freut mich zu hören«, versetzte der wie aus dem Ei gepellte, mit Borsalino, dunklem Anzug und Seidenschal ausgestattete Begleiter des Stationsarztes, der wie der Prototyp eines Impresarios aussah. Der sorgsam zurechtgestutzte d’Artagnan-Bart, so etwas wie sein Markenzeichen, trug in erheblichem Maße zu diesem Eindruck bei. »Noch irgendwelche Wünsche?«

Die Reaktion bestand aus einem Achselzucken. »Nicht, dass ich wüsste«, erklärte Kempa lapidar, während sich seine Augenlider langsam senkten. »Könnte mir nicht besser gehen.«

»Na schön, Kleiner«, gab sich der schlanke, mindestens einen Kopf größere Offizier im besonderen Einsatz[10] betont jovial, »ganz, wie du willst.«

»Du sagst es, Professor.«

Der Mundwinkel des knapp 39-jährigen Oberleutnants der Staatssicherheit zuckte nervös, und der konturlose, auf einem schlanken Hals ruhende Schädel bewegte sich ruckartig nach vorn. »Wenn du denkst, Genosse«, raunzte er den ehemaligen Kriegskameraden ohne Rücksicht auf den Stationsarzt an, »wenn du denkst, du kannst uns verarschen, hast du dich geschnitten.«

»Tatsächlich?«

»Was deine Absichten betrifft«, ergänzte der Stasi-Beamte von oben herab, hinter dessen gepflegter Erscheinung sich der gelernte Folterknecht verbarg, »sind wir nämlich bestens im Bilde, Benjamin.« Und kurz darauf, nach einem Blickwechsel mit dem Stationsarzt: »Ist dir eigentlich klar, dass du uns beiden viel Arbeit abnimmst?«

»Keine Ahnung, wovon du sprichst, Kamerad.«

»Und ob du sie hast!«, widersprach Kempas Widersacher, nach außen weiterhin um Contenance bemüht. »Genug Morphium, um einen Elefanten zu erledigen, und du kleiner Klugscheißer denkst, wir kriegen davon nichts mit. Dazu dieser dilettantische Plan. Ich hätte dich wirklich für klüger gehalten, Benjamin.« Der Stasi-Beamte richtete sich zu voller Größe auf und ließ den Blick über den Todgeweihten wandern. »Damit du Bescheid weißt: Der Fetzen Papier, mit dem du uns beide in Atem gehalten hast, befindet sich seit gestern Abend in unserer Hand.« Der Oberleutnant ließ seiner Häme freien Lauf. »Schachmatt, Genosse Ingenieur.«