Sein Pech, dass er es mit einem Agenten vom Schlage Rembrandts zu tun hatte. Der fackelte ebenfalls nicht lange, riss seine Waffe empor und feuerte, was das Zeug hielt. Ohne mit der Wimper zu zucken, ohne auf den vielstimmigen Aufschrei der Umstehenden zu achten, ohne Rücksicht auf Verluste. Und ohne Rücksicht auf Jensen, der wie festgenagelt auf dem Beifahrersitz verharrte.
Rembrandt hatte Glück, in der Tat. Die Waffe im Anschlag, torkelte der US-Leutnant auf die Corvette zu, drehte sich um die eigene Achse und krachte rücklings auf die Motorhaube.
Holländer focht das nicht an. »In Deckung, du Idiot!«, brüllte er Jensen an, drückte ihm die Tokarew in die Hand, legte den Rückwärtsgang ein und stieß zurück. Gerade rechtzeitig, bevor eine MG-Salve auf ihn abgefeuert wurde, welche die Fensterscheiben der Verwaltungsbaracke der Reihe nach zu Bruch gehen ließ.
Im Gegensatz zu dem GI, der zwischen dem Kofferraum der Corvette und der Motorhaube eines dunkelroten VW Cabriolet zerquetscht wurde, hatte Rembrandt nichts abgekriegt. Ohne Blick für den GI und den blutüberströmten Körper des Militärpolizisten, der unmittelbar vor ihm auf dem Pflaster aufschlug, legte er daraufhin wieder den Vorwärtsgang ein und ließ den Sechszylindermotor der Corvette laut aufheulen. Er tat dies mit einer Kaltschnäuzigkeit, welche die Umstehenden jäh erstarren ließ, mechanisch, abgeklärt und mit unbeteiligter Miene. Als ginge ihn alles nichts an, überrollte er den Zollbeamten, drückte aufs Gas, scherte nach rechts aus und jagte mit 140 Sachen davon. Auf die Schaulustigen, unter ihnen etliche Reporter, verschwendete Holländer keinen Blick. »Das wär’s dann wohl gewesen!«, brüstete er sich, wohl wissend, dass ihn niemand einholen konnte. »Glück muss der Mensch haben!«
In einem Punkt hatte Curt Holländer, ehemaliger Obersturmbannführer der SS und Offizier im besonderen Einsatz, jedoch kein Glück, sondern ausgesprochenes Pech. Minuten später, im Begriff, seine Tokarew wieder ins Halfter zu stecken, fiel sein Blick in den Rückspiegel, woraufhin sich seine Miene umgehend verfinsterte.
Die Benzinspur auf dem Straßenbelag sprach eine deutliche Sprache. Der Blick, mit dem Jensen ihn musterte, nicht minder.
Ein Grund mehr für ihn, aufs Gas zu drücken, alles auf eine Karte zu setzen und das, was er sich vorgenommen hatte, durchzuziehen.
Koste es, was es wolle.
24
Berlin-Kreuzberg, Alte Jakobstraße | 10.05 h
»Eins muss man Ihnen lassen, Kuragin«, räumte Sydow widerstrebend ein, während er sich keuchend und schwitzend durch den unterirdischen Abwasserkanal zwängte. Die stickige, von infernalischem Gestank durchtränkte Luft schnürte ihm beinahe den Atem ab, Kuragin hingegen tat so, als ließe ihn das alles kalt. »Auf den Kopf gefallen seid ihr Jungs vom MGB ganz bestimmt nicht.«
»Danke für die Blumen, Herr Kommissar«, antwortete der Geheimdienstler, vor nicht allzu langer Zeit noch stolzer Besitzer eines maßgeschneiderten Anzuges, der durch den Abstieg in Berlins Kloake komplett ruiniert worden war. »Sie wissen gar nicht, wie gut das tut.«
»Gern geschehen«, bekundete Sydow lapidar und folgte Kuragin auf dem Fuße, begleitet vom Rauschen der übelriechenden Brühe, durch die er seit geraumer Zeit watete. Wie lang der Stollen war, wagte er nicht zu fragen, gut möglich, dass der amerikanische Sektor längst hinter ihnen lag. Der Gestank war nicht zum Aushalten, die Ratten, die bei Kuragins Anblick laut quiekend das Weite suchten, gaben ihm den Rest. Sydow fluchte leise in sich hinein. An sich war er gegen Platzangst gefeit, aber so etwas, so ein penetranter Fäulnisgeruch war ihm bislang nicht untergekommen. Er konnte von Glück sagen, wenn er heil hier rauskam, mehr verlangte Sydow nicht.
»Nur keine Müdigkeit vorschützen, Herr Kommissar«, trieb Kuragin ihn an und verscheuchte eine besonders fette Wasserratte, die zunächst keinerlei Anstalten gemacht hatte, dem MGB-Oberst auszuweichen. »Wir sind gleich da.«
»Ihr Wort in Lenins Ohr, Kuragin«, presste Sydow hervor, während sich das Echo seiner heiseren Stimme in der Ferne verlor. »Davon werde ich noch meinen Enkeln erzählen.«
»Ihren Enkeln? Ich wusste gar nicht, dass Sie in den Stand der …«
»Schon gut, Kuragin«, ließ Sydow den Mann, auf den er seine ganzen Hoffnungen setzte, nicht ausreden und schloss mit den Worten: »Vergessen Sie’s.«
»Warum denn so schnippisch, Herr Kommissar? Von Ihnen ist man so etwas ja nun wirklich nicht gewohnt«, hänselte ihn der Geheimdienstoffizier, blieb inmitten der zähflüssigen Kloake stehen und leuchtete in die pechschwarze Finsternis hinein. Sydow war so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass er ihn beinahe angerempelt hätte, was Kuragin mit einem belustigten Stirnrunzeln registrierte. »Nur keine Panik, Herr Kommissar, in ein paar Minuten sind wir da.«
»Kann es sein, dass Sie sich hier bestens auskennen?«, wollte Sydow wissen, nachdem sich Kuragin wieder in Bewegung gesetzt hatte. »Ziemlich praktisch, so ein Abwasserkanal, nicht wahr?«
Kuragin prustete aufgekratzt in sich hinein und versuchte gar nicht erst, Sydows unausgesprochene Vermutung herunterzuspielen. »Das können Sie aber laut sagen!«, pflichtete er ihm bei und zerfetzte ein Spinnennetz, hinter dem ein schwacher Lichtschein zu erkennen war. In der Folgezeit kam dieser rasch näher, weshalb er seine Schritte merklich beschleunigte. »Aber was bleibt einem übrig bei den Bandagen, mit denen die Amerikaner zu Werke gehen. Da muss man sich eben etwas einfallen lassen, um sich ein Bild von der Lage im Westen zu machen. Ein Glück, dass es diesen Stollen gibt. Diesen und mindestens ein halbes Dutzend von der gleichen Sorte. Auf diese Weise können unsere Agenten jederzeit die … die … Wie sagt man bei Ihnen doch gleich?«
»Die Fliege machen.«
»Genau. Wenn Sie wüssten, wie viele unserer Genossen wir hier bereits durchgeschleust haben.« Kuragin blinzelte Sydow belustigt an. »An manchen Tagen geht’s hier drunten wie auf der Avus zu.«
»Nichts für ungut, Kuragin – aber für einen hochrangigen Tschekisten[35] scheinen Sie mir verdammt noch mal ziemlich redselig zu sein«, gab Sydow zu bedenken, als er sich der Leiter näherte, die hinauf ans ersehnte Tageslicht führte. »Haben Sie keine Angst, dies könnte Ihnen zum Verhängnis werden?«
»Ein wenig schon«, räumte Kuragin ohne Umschweife ein, atmete tief durch und drehte sich zu Sydow um. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe tanzte wie ein Derwisch an der Decke entlang, wo sich offenbar eine Kolonie Fledermäuse eingenistet hatte. »Weshalb ich nunmehr Vorkehrungen gegen allzu neugierige Kriminalhauptkommissare der Berliner Kripo treffen muss. Keine Angst, das Chloroform ist mir momentan ausgegangen.«
»Wie bedauerlich«, feixte Sydow, dem die Aktion, zu der er sich hatte hinreißen lassen, nach wie vor nicht richtig geheuer war. »Was haben wir denn sonst noch so auf Lager?«
»Das hier.«
»Eine Augenbinde? Das meinen Sie doch wohl nicht …«
»Und ob ich das ernst meine!«, stellte Kuragin unmissverständlich klar. »Ganz ehrlich, Herr Kommissar – glauben Sie wirklich, ich hätte meine gute Kinderstube vergessen?« Kuragin ließ die Augenbinde, die er soeben aus seinem Jackett herausgefischt hatte, wie ein Pendel hin und her schwingen. »Wie pflegte der Genosse Lenin doch zu sagen – ›Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser‹. Was ich damit sagen will, ist: Entweder Sie gehen auf meinen Vorschlag ein oder treten weiter auf der Stelle. Tut mir leid, Towarischtsch – aber so und nicht anders lauten meine Bedingungen.«
»Sie spielen für Ihr Leben gern blinde Kuh, stimmt’s?«
»Kann man so sagen.«
»Ja, wenn das so ist, bleibt mir wohl keine andere Wahl. Man ist ja schließlich kein Spielverderber.«
Kuragin schnitt eine Grimasse und legte Sydow die Augenbinde an. »Ach, wenn wir gerade dabei sind, Herr Kommissar, sollten Sie mit dem Gedanken spielen, den Verlauf des Stollens an …«