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»Und ich?«

»Du, mein Freund, wirst diese Tür da drüben aufschließen und den Herrn, den du dort vorfinden wirst, ins Gebet nehmen. Auf dem Weg zur Lösung deines Falles wird er dir ein erhebliches Stück weiterhelfen, so viel kann ich dir versprechen. Besonders, was die Konsequenzen angeht, die sich aus seinen Ausführungen ergeben.«

»Welche Konsequenzen?«

»Das musst du schon selbst herausfinden, Tom.« Auf Kuragins Gesicht, welches beinahe vollständig hinter einem süßlich riechenden Rauchschleier verschwand, blitzte ein rätselhaftes Lächeln auf. »Nur so viel sei gesagt: Du bist einem Riesending auf der Spur. Gäbe es für mich derzeit nicht so viel zu tun, würde ich mich liebend gerne selbst darum kümmern.« Kuragin hob die Rechte zum Abschiedsgruß. »Und wäre da nicht ein gewisser Tom Sydow, der vermutlich viel bessere Karten hat als ich.«

*

Die erste Tat, zu der sich Sydow nach dem Betreten des geräumigen Zimmers im rückwärtigen Teil der Etagenwohnung entschloss, bestand in dem vergeblichen Versuch, das von außen verbarrikadierte Fenster zu öffnen, die zweite darin, das Licht anzuknipsen. Nachdem beides fehlgeschlagen war, wandte er sich der Gestalt zu, die auf einem Stuhl inmitten des gähnend leeren Raumes saß. Durch die Tür, die Sydow offen gelassen hatte, fiel ein greller Lichtkegel und sorgte dafür, dass der Mann reflexartig zusammenzuckte.

›Mann‹ war vielleicht nicht das richtige Wort, eher Teenager. Der an Händen und Füßen gefesselte Blondschopf mit den markanten Wangenknochen, der bleichen Haut und den hervortretenden Augen war höchstens 20 Jahre alt, unter Umständen erheblich jünger. Er war völlig verängstigt, wies jedoch keinerlei Spuren von Misshandlungen auf. Das Auffallendste an ihm war das kindliche Gesicht, was Sydow zu der Schlussfolgerung verleitete, er habe es mit einem vor der Zeit in die Höhe geschossenen Lausejungen zu tun. Dass dem nicht so war, wurde ihm bei genauerem Hinsehen klar, zumal der Jüngling weiße Hosen, ein ebenfalls weißes Hemd und darüber einen Arztkittel trug, auf der mit schwarzen Lettern ein Name eingestickt war.

Wenige Schritte von ihm entfernt versuchte er, das Eingestickte zu entziffern, doch der Blondschopf begann am ganzen Leibe zu zittern, weshalb Sydow rasch näher trat und das Klebeband, mit dem er mundtot gemacht worden war, entfernte.

»Ich … ich habe doch schon alles gesagt!«, stammelte der junge Bursche und riss verängstigt die Augen auf. »Mehr als das, was ich bei Ihrem Kollegen zu Protokoll gegeben habe, kann ich Ihnen beim besten Willen nicht sagen.«

»Das brauchen Sie auch nicht.« Um ihn nicht weiter zu ängstigen, legte Sydow eine kurze Pause ein. Danach sah er den Blondschopf prüfend an und verriet: »Damit Sie Bescheid wissen: Ich bin nicht vom MGB.«

»Nicht vom …?«

»Tom Sydow, Kripo Berlin. Von mir haben Sie nichts zu befürchten.«

»Sie nehmen mich auf den Arm, oder?«

»Weshalb sollte ich«, entgegnete Sydow, warf das Klebeband weg und begann damit, den jungen Mann von seinen Fesseln zu befreien. »Jens Liebermann, wenn ich nicht irre?«, fügte er nach einem Blick auf die Brusttasche seines Gesprächspartners hinzu, dem vor Furcht beinahe die Haare zu Berge standen und dem Sydow offenbar nicht ganz geheuer war. »Sehe ich das richtig?«

Der junge Mann, dessen Kinnpartie von einer hauchdünnen Flaumschicht überwuchert war, deutete ein Nicken an. »Wie er leibt und lebt.«

»Darf man fragen, wie Sie zu dieser Montur kommen?«

»Ich arbeite in der Charité.«

Obwohl es ihn beinahe umgehauen hätte, ließ sich Sydow nichts anmerken und mimte den Unbedarften. »So, so. Daher Ihre makellos reine Montur. Hoffen wir, dass dies auch auf Ihr Gewissen zutrifft.«

»Rein oder nicht, ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als der MGB schon weiß«, hielt der junge Mann, bei dem es sich offensichtlich um einen Krankenpfleger handelte, mit urplötzlich aufkeimendem Trotz dagegen. »Zum x-ten Mal – ich habe nichts mit der Sache zu tun. Aber auch rein gar nichts, hören Sie.«

»Wie wär’s, wenn Sie sich erstmal beruhigen und wir beide anschließend noch mal kurz die Details durchgehen. Nichts für ungut, Herr Liebermann, aber so kommen wir nicht weiter.«

»Also gut, was wollen Sie wissen?«

»All die Dinge, worüber Sie sich bisher ausgeschwiegen haben«, antwortete Sydow, entknotete den Strick, mit dem der Ostberliner an den Stuhl gebunden worden war, und ließ ihm Zeit, seine Antwort genau zu überdenken.

Er sollte es nicht bereuen.

*

Sydow konnte es immer noch nicht fassen, auf welche Goldader er dank der Unterstützung eines gewissen Juri Andrejewitsch Kuragin gestoßen war. »Und wie haben Sie es angestellt, diesen Benjamin Kempa verschwinden zu lassen? Nach Lage der Dinge dürfte das alles andere als ein Kinderspiel gewesen sein.«

Liebermann stützte die Ellbogen auf die Knie und schlug die Hände vor die Augen. »Kann man wohl sagen«, stimmte er geraume Zeit später zu, massierte die Schläfen und richtete sich im Zeitlupentempo auf. »Vor allem, weil … weil …«

»Niemand etwas davon mitbekommen durfte, ist mir klar. Jede Wette, dass sich der Herr Stationsarzt vor Angst beinahe in die Hosen geschissen hat.«

»Hat er, Herr Kommissar, hat er.« Jens Liebermann, Krankenpfleger in der Psychiatrischen Klinik der Charité, lachte auf eine Weise, wie es Sydow bei einem Mann seines Alters und Aussehens nicht vermutet hätte. Dies hier war kein Lachen gewesen, nie im Leben. Es war der Ausdruck tief sitzenden Grolls, gepaart mit Enttäuschung, Rachsucht – und Hilflosigkeit. »Wenn’s nicht so traurig wäre, könnte man drüber lachen.«

»Und dann? Wo haben Sie und dieser Stationsarzt den Leichnam anschließend hingekarrt?«

»Rüber zum Humboldthafen.«

»Um ihn mithilfe von Gewichten für immer in den kühlen Fluten der Spree versinken zu lassen«, flüchtete sich Sydow in Sarkasmus und hatte seine liebe Not damit, die Schilderungen seines Kronzeugen zu verdauen.

Liebermann schaute verdutzt aus der Wäsche. »Woher wissen Sie das, Herr Kommissar?«

»Erfahrung, junger Mann, jede Menge Erfahrung. Und ein geschultes Auge.«

Der Krankenpfleger nestelte verlegen am Kragen seines Hemdes herum. »Ich hab das alles nicht gewollt, Herr Kommissar –«, klagte er, »glauben Sie mir. Aber wenn die Stasi aufkreuzt, dir die Pistole auf die Brust setzt und damit droht, dich und deine Familie in die Mangel zu nehmen, bist du am Ende mit deinem Latein. Da sackt dir das Herz in die Hose, darauf können Sie wetten.«

»Keine müde Mark«, hieb Sydow in die gleiche Kerbe, um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. »Mit den Jungs aus der Normannenstraße ist bekanntermaßen nicht gut Kirschen essen.«

»Beruhigend, dass Sie es genauso sehen, Herr Kommissar.« In seiner Not stieß Liebermann einen tiefen Seufzer aus. »Kempa hat mir vertraut, als Einzigem in dem ganzen Laden. Das hat Kröger natürlich schnell spitzgekriegt. So nach und nach ist der Kempa dann aufgetaut, hat mir seine Geschichte erzählt. Immer und immer wieder. Kein Tag verging, ohne dass er nicht in irgendeiner Form darauf zu sprechen gekommen ist.«

»Seine Geschichte?«

»Und was für eine, Herr Kommissar. Zwar habe ich mir das nie richtig vorstellen können, aber es sieht so aus, als sei Kempa tatsächlich in der SS und ein Experte in Sachen Grubenbau und Bergwerkskunde gewesen – in der SS, ausgerechnet der. Sei’s drum: Ende April 1945 hat er sich dann wohl dünnegemacht, nach Berlin durchgeschlagen und stand eines schönen Tages daheim in Köpenick vor der Tür. Pech aber auch, dass seine Alte gerade mit einem anderen im Bett zugange gewesen ist.«