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»Hören Sie, Herr Kommissar, wenn Sie glauben, Kempas Schicksal ließe mich kalt, irren Sie sich gewaltig«, stellte Liebermann auf eine Weise klar, die jegliche Zweifel an seiner Aufrichtigkeit zerstreute. »Was hätte ich denn machen sollen, können Sie mir das vielleicht …«

»Jeder ist sich selbst der Nächste, keine Frage«, warf Sydow mit belegter Stimme ein. »Was mich betrifft, kann ich dir da keinen Vorwurf machen. Die Frage ist, wie du auf Dauer damit klarkommen wirst. Und das, junger Mann, ist letzten Endes allein dein Problem.« Sydow erhob sich, schob den Stuhl beiseite und begab sich zur Tür. Dort angekommen, drehte er sich noch einmal um, ging in sich und sagte: »Eine Frage hätte ich allerdings noch.«

»Ja?«

»Bist du in der Lage, mir diesen Folterknecht von der Stasi zu beschreiben?«

Liebermann machte ein angewidertes Gesicht. »Ziemlich lange Haare, nicht auf den Kopf gefallen, geschliffene Umgangsformen, gut aussehend, gut gekleidet, gut gebaut – kurzum: Einer, auf den die Frauen fliegen.«

»Ein Salonlöwe sozusagen.«

»Genau.« Liebermann rieb sich die schmerzenden Handgelenke und stand mühsam auf. »Eiskalt, rücksichtslos, verschlagen und hinterhältig bis zum Gehtnichtmehr – um nur einige seiner Charaktermerkmale zu erwähnen. Vor so jemandem muss man sich hüten.«

»Besondere Kennzeichen?«

»Bitte halten Sie mich nicht für bekloppt, Herr Kommissar – aber er hat ausgesehen wie …«

»Nur keine falsche Scham, junger Freund«, übte sich Sydow in Galgenhumor. »Wir sind unter uns.«

»… wie Gene Kelly, als er in diesem Musketier-Film mitgespielt hat.« Liebermann dachte angestrengt nach. »Ja, genau!«, rief er nach einer Weile aus. »Er hat ausgesehen wie dieser d’Artagnan. Wegen seines Bartes, meine ich. Auf die Gefahr, als bescheuert dazustehen – er hätte glatt als Musketier durchgehen können.«

»Ein Scheusal mit d’Artagnan-Bart«, sinnierte Sydow vor sich hin, »öfter mal was Neues.«

»Vor dem müssen Sie sich in Acht nehmen, Herr Kommissar. Sonst ziehen Sie den Kürzeren.«

»Danke für den Tipp. Und sein Name?«

»Keine Ahnung.« Der junge Mann riss entschuldigend die Hände hoch. »Wirklich nicht.«

»Oder vielleicht Deckname? Für so was sollen die Jungs von der Stasi ja ein Faible haben.«

»Bedaure, Herr Kommissar – Fehlanzeige.«

Sydow atmete tief durch. »Tja, das wär’s dann wohl gewesen«, murmelte er, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe und wandte sich zum Gehen. »Schönen Dank auch, junger Mann.«

»Und was ist mit mir?«, rief Liebermann ihm verdutzt hinterher. »War das etwa schon …«

»Das war alles, du hast es erfasst«, erwiderte Sydow und drehte sich nochmals um. »Oder soll ich dich etwa verhaften?«

Liebermann ließ den Kopf hängen und schwieg.

»Na also.« Sydow stützte sich am Türbalken ab und sah seinen Gesprächspartner lange und eindringlich an. »Wie gesagt: Wie du deine Lage meisterst, Sportsfreund, liegt allein bei dir. Bleibt mir nur, dir Glück zu wünschen. Besonders, was deine Zukunft angeht.«

»Und Sie, Herr Kommissar?«

»Meine Wenigkeit? Ich werde alles daransetzen, auf die Spur von Mister Unbekannt zu kommen. Darauf kannst du dich verlassen.« Und auf die Spur dieser Bernstein-Connection, ergänzte Sydow im Stillen. Auf die Herren von der SS bin ich nämlich nicht sonderlich gut zu sprechen. »So leicht werde ich mich von Monsieur d’Artagnan sicherlich nicht ins Bockshorn jagen lassen.«

»Keine Bange, Sie werden das Kind schon schaukeln, Herr Kommissar.«

»Vorausgesetzt, die Stasi kommt mir nicht wieder in die Quere«, murmelte Sydow halblaut vor sich hin, drehte sich um und eilte im Laufschritt davon. »Oder ein Bernsteinjäger, von dem ich noch nichts weiß.«

25

Flughafen Berlin-Tempelhof | 11.50 h

Die Sache war ihm wirklich nicht geheuer. Weniger aufgrund der Summe von einer Million, die würde Mister K auf den Tisch blättern. Ohne mit der Wimper zu zucken. Sondern weil er, Gregory Boynton Grant, das Gefühl nicht loswurde, dieser mit allen Wassern gewaschene Stasi-Agent wolle ihn aufs Kreuz legen. Ganz so einfach, wie er sich das anfangs gedacht hatte, würde der geplante Kuhhandel mit Sicherheit nicht über die Bühne gehen.

Am Fuß der Gangway angelangt, sah der stellvertretende Direktor der CIA auf die Uhr. Kurz vor zwölf, folglich nur noch gut einen halben Tag Zeit. Danach würde die Frist, die Mister K ihm gesetzt hatte, ablaufen. Ohne Wenn und Aber. Ob er es nun wahrhaben wollte oder nicht, es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder er brachte es fertig, den Deal innerhalb von zwölf Stunden über die Bühne zu bringen, oder er war geliefert. Beziehungsweise ein toter Mann.

Da er sich in Berlin ganz gut auskannte, blickte Grant stur geradeaus, setzte seine Sonnenbrille auf und steuerte auf die Abfertigungshalle zu. Für seinen Geschmack war es viel zu warm, der Himmel bedeckt und grau. Vor den Hangars stauten sich die Militärflugzeuge, unter ihnen eine DC-3 und direkt daneben eine B-29. Bei ihrem Anblick verklärte sich seine Miene, er musste automatisch an die Vergangenheit und an seine Zeit als CIA-Agent denken. Damals, auf dem Höhepunkt der Berlin-Blockade, hatte er sein Leben noch im Griff gehabt, anders als heute, als es dabei war, aus dem Ruder zu laufen. Grant umklammerte den Griff seines Koffers, zückte seinen Pass und gab sich Mühe, im Pulk der Geschäftsleute, Armeeangehörigen und Besucher aus dem Westen nicht aufzufallen. Bernsteinzimmer oder freier Fall, lautete die Devise, Karriere oder Absturz, High Society oder Knast, falls es ihn nicht schon vorher erwischen würde.

Weit davon entfernt, abgeklärt oder selbstsicher zu wirken, sah sich Grant verstohlen um. Hier draußen herrschte ein gewaltiger Lärm, ein ständiges Kommen und Gehen, eine Hektik wie vor fünf Jahren. Man musste kein Prophet sein, um das Außergewöhnliche am heutigen Tag zu erkennen. Kein Zweifel, hier braute sich etwas zusammen.

Und nicht nur hier.

Bei der Passkontrolle gab es keinerlei Schwierigkeiten. Grants Miene entspannte sich. Wäre ja noch schöner, dachte er, falls hier etwas schiefgegangen wäre. Mochte sein Pass auch gefälscht und auf den Namen Henry Gordon Stanley ausgestellt sein. Kein Grund zur Aufregung, wirklich nicht. Allein die Kleidung vom Typ amerikanischer Durchschnittsbürger, wozu unter anderem ein potthässliches Sakko gehörte, war so bieder, dass seiner Absicht, nicht weiter aufzufallen, abzutauchen und anschließend unter falschem Namen im Kempinski einzuchecken, zumindest in der Theorie nichts im Wege stehen würde.

In der Praxis, das heißt nach dem Verlassen des Abfertigungsgebäudes, nahmen die Dinge allerdings einen gänzlich anderen Lauf. Es fing damit an, dass Grant zu schwitzen begann, weniger aufgrund der vorherrschenden Temperaturen, die er von Haus aus und seinen Aufenthalten in New York gewohnt war. Er saß kaum im Taxi, hatte dem Fahrer gerade erst sein Ziel genannt, da war er bereits schweißgebadet. Grant hasste Schweiß, hasste den Gestank in den U-Bahn-Waggons, verabscheute den Geruch anderer Menschen, bisweilen sogar den eigenen. Das legte seine Sinne lahm, machte ihn nervös, fahrig – und unsicher.

Kurz darauf, als das Taxi in die Yorckstraße einbog, war die dumpfe Ahnung in ihm zur Gewissheit geworden. Irgendetwas war hier faul. Sein Riecher, auf den sich Grant wirklich etwas einbilden konnte, hatte ihn noch nie im Stich gelassen. Auf ihn, den Retter in der Not, konnte er jederzeit, nahezu blind, vertrauen.

Ein Blick in den Rückspiegel und Grant sackte in sich zusammen. Genau das, was er hatte vermeiden wollen, war eingetreten. Er hätte alles dafür gegeben, wenn sich seine Beobachtung als pures Hirngespinst entpuppt hätte. Zu seinem Leidwesen war dem allerdings nicht so. Das dunkelrote Cabrio, ein Buick vom Typ Skylark, kam ihm bekannt vor. Und nicht nur das. Beim Verlassen des Abfertigungsgebäudes, kurz vor dem Einsteigen, war es ihm bereits zum ersten Mal aufgefallen. In der Hektik hatte er nicht genauer hingeschaut, ein weiteres Indiz, dass der 17. Juni 1953 nicht der Tag von Gregory Boynton Grant werden würde. Mit Sicherheit nicht. Grant stöhnte innerlich auf. Es würde ein Tag werden, an dem es für ihn nur um eines ging: ums nackte Überleben.