Noch im gleichen Moment, mit Blick auf seine mit Hut, Krawatte und dunklem Blazer bekleideten Verfolger, ging ein Ruck durch ihn. So leicht, wie es sich die beiden Kerle hinter ihm gedacht hatten, würde er es ihnen nicht machen. Einfach lächerlich, zu glauben, sie könnten sich eine Sonnenbrille aufsetzen, in einen Buick lümmeln und unbemerkt hinter ihm herkurven. Diesen Zahn würde er den beiden ziehen.
Ein Hundertmarkschein, und der Taxifahrer, allem Anschein nach auf Draht, hatte verstanden. Auch ohne Worte. Kaum hatte er den Hunderter eingesteckt, beschleunigte der nagelneue Mercedes 170 auch schon auf 80 Sachen und bog mit quietschenden Reifen in die Potsdamer Straße ein. Dass er beinahe einen Radfahrer über den Haufen gefahren hätte, schien den Berliner mit dem unförmigen, im Vergleich zu seinem Körperbau viel zu groß geratenen Schädel nicht im Geringsten zu interessieren. Ohne Rücksicht auf den dichten Verkehr und seinen offenbar recht betuchten Kunden raste er mit einer Geschwindigkeit von mittlerweile über 100 Stundenkilometern auf den Tiergarten zu, überholte einen Linienbus, geriet auf die Gegenfahrbahn und fädelte mit einer Lässigkeit wieder ein, die Grant, selbst stolzer Besitzer von einem halben Dutzend Coupés, erschrocken zusammenfahren ließ.
Etwa zehn Minuten später, als der Mercedes in die Tiergartenstraße einbog, war es geschafft. Das Cabrio mitsamt seinen beiden Verfolgern war nicht mehr zu sehen. Einen Seufzer der Erleichterung auf den Lippen, ließ sich Grant auf den komfortablen Rücksitz sinken. Das war noch einmal gut gegangen, besser als zunächst befürchtet. Blieb die Frage, um wen es sich bei den Männern auf dem Vordersitz des Buick gehandelt haben mochte. Von seiner Reise hatte niemand etwas mitgekriegt, geschweige denn davon erfahren. Aufgrund der Tatsache, dass er auf Nummer sicher gegangen und unter falschem Namen gereist war, konnte man das getrost ausschließen. Alles nur ein Zufall?
Wer weiß, machte sich Grant selbst Mut, umklammerte den Vordersitz und brachte seinen Körper wieder in eine halbwegs aufrechte Position. Vielleicht siehst du langsam Gespenster. Könnte ja immerhin sein.
Schließlich hatte er einen turbulenten Abend gehabt, Ärger zuhauf und einen anstrengenden Flug hinter sich. Kein Wunder, wenn man da Halluzinationen hatte. So etwas kam eben hin und wieder vor. Selbst bei ihm, dem stellvertretenden Direktor der CIA.
Wieder guter Dinge, richtete Grant den Blick nach vorn. In der Zwischenzeit hatte der Taxifahrer einen Gang runtergeschaltet und sich in die Schlange eingereiht, die sich vor der Abzweigung Richtung Siegessäule gebildet hatte. Die Ampel sprang auf Rot, Zeit genug für einen kleinen Plausch.
»Besten Dank, gute Arbeit!«, lobte Grant den Fahrer und klopfte ihm anerkennend auf die Schulter, nicht ohne Stolz auf sein nahezu akzentfreies Deutsch.
Der Taxifahrer verzog keine Miene, änderte seine Blickrichtung nicht. Etliche Sekunden später, nachdem Grant zu dem Schluss gekommen war, sein Chauffeur sei irgendwie in Gedanken, drehte sich der Taxifahrer in aller Gemütsruhe zu ihm um. Er war um die 40, hatte dunkle Augen, wulstige Lippen und eine pockennarbige, auffallend poröse Haut. Am auffälligsten war jedoch das Muttermal, welches unter seinem Hemdkragen hervorlugte, man konnte es schlichtweg nicht übersehen.
»Gern geschehen!«, erwiderte der Taxifahrer, neigte den Kopf zur Seite und musterte Grant auf eine Weise, die normalerweise seinen Argwohn erweckt hätte. »War mir ein Vergnügen.«
Dann zückte er eine Spraydose, zielte damit auf sein Gesicht und ließ ihren Inhalt komplett entweichen.
»Na, dann wollen wir mal!«, fügte er hinzu, als Grant bereits bewusstlos zusammengesunken, die Ampel auf Grün gesprungen und das Taxi nach rechts abgebogen war. »Sonst kommen wir am Ende noch zu spät.«
*
Als Grant wieder zu sich kam, hatte er Mühe, die Augen zu öffnen. Er war völlig benommen, seine Haut so erhitzt, dass er dachte, jemand habe ihm eine ätzende Flüssigkeit ins Gesicht geschüttet. Es fehlte nicht viel, und er wäre wieder ohnmächtig geworden. Brechreiz überkam ihn, weshalb er sich ruckartig nach vorn beugte. Genau das hätte er nicht tun sollen, drohte er in diesem Moment doch das Gleichgewicht zu verlieren und kopfüber von der Parkbank in Sichtweite des Denkmals von Friedrich Wilhelm III. zu fallen.
So weit sollte es jedoch nicht kommen. Nicht etwa, weil die Wirkung des Sprays, dem anscheinend reichlich Äther beigemischt worden war, plötzlich nachgelassen und er wieder Herr seiner Sinne gewesen wäre. Er fühlte sich immer noch hundeelend, wie kurz vor einem Infarkt. Der Grund, dass er nicht vornüberkippte und eine Bauchlandung nach Maß hinlegte, war ein anderer: jemand hielt ihn fest.
Dieser Jemand, der sich anscheinend geraume Zeit an seinem Anblick ergötzt hatte, schob den Arm unter seine linke Achsel und sorgte dafür, dass er das Gleichgewicht nicht verlor. Bis Grant überhaupt imstande war, nach ihm Ausschau zu halten, verging einige Zeit. Minuten, die ihm angesichts seines Zustandes wie Stunden vorkamen. Nach wie vor hielt Grant die Augen geschlossen, als weigere er sich, das Albtraumhafte seiner Situation als das zu akzeptieren, was es war: die Realität.
Er saß in der Klemme, dermaßen tief, wie er es sich nie und nimmer hätte vorstellen können. Schlimmer, so die plötzlich aufblitzende Erkenntnis, hätte es für ihn nicht laufen können.
»Na, Deputy Director – wieder einigermaßen ansprechbar?«
»Was … was woll…«, wehrte sich Grant, einen Geschmack im Mund, bei dem es ihm beinahe den Magen umgedreht hätte. Fest entschlossen, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen, mobilisierte er die letzten Kräfte. Doch seine Zunge klebte derart hartnäckig am Gaumen, dass es geraume Zeit dauerte, bis ihm die Frage über die Lippen kam. »Was wollen Sie?«
»Eine Antwort auf die eine oder andere Frage«, entgegnete die Stimme neben ihm, gerade so, als sei es das Normalste der Welt, den stellvertretenden Direktor der CIA außer Gefecht zu setzen und eine willenlose Marionette aus ihm zu machen. »Mit der Bitte um möglichst detaillierte Informationen.«
Mit seinen geschlossenen Augen kam sich Grant wie beim Karussellfahren vor, und obwohl er völlig benebelt war, dämmerte ihm, dass er eine Riesendummheit begangen hatte.
»Ich höre, Mister Grant.«
»Wie kommt es, dass Sie so gut Englisch …?«
»Ich bin es, der hier die Fragen stellt, klar? Wer ist der Mann, mit dem Sie sich heute treffen wollen?«
Daher wehte also der Wind. Verzweifelt bemüht, seine Gedanken zu ordnen, klammerte sich Grant an der Parkbank fest, schnappte nach Luft und schlug die Augen auf. »Wüsste nicht, was Sie das angeht!«, trotzte er mit Blick auf die Gestalt an seiner Seite, deren Konturen sich im gleißend hellen Sonnenlicht in Nichts aufzulösen schienen.
»Owen McAllister, Special Operations Division der CIA und Beauftragter für Berlin«, stellte sich Grants Gesprächspartner kurzerhand vor, nicht gewillt, sich auf irgendwelche Mätzchen einzulassen. »Wir haben Ihre Telefonate abgehört, inklusive der letzten drei, die von Ihrer Villa aus geführt wurden. Daher sind wir über Ihre – wie drücke ich mich am besten aus? – über Ihre Winkelzüge und landesverräterischen Umtriebe bestens im Bilde.«
»Landesverrat – wie kommen Sie auf diese Idee?«
»Telefonischer Kontakt mit einem Agenten der DDR-Staatssicherheit – wie würden Sie so etwas bezeichnen, Mister Grant? Als einen Plausch unter Freunden?«
»Was wissen denn Sie schon von …«
»Freundschaft? Eine ganze Menge, Deputy Director. Pech für Sie, dass es sich bei dem Mann, der Ihre widernatürlichen Triebe zu befriedigen pflegte, ausgerechnet um einen sowjetischen Spion gehandelt hat. Oder vielmehr handelt. Der es vor seinem spurlosen Verschwinden offenbar verdammt eilig hatte, Ihre Pläne brühwarm auszuplaudern. Per Telefon, versteht sich. Dienst nach Vorschrift sozusagen.« Aus dem Mund des CIA-Agenten erklang ein hämisches Lachen. »Wie Sie sehen, Mister Grant, ist es sinnlos, mir etwas vormachen zu wollen. Eine Million Dollar für das Bernsteinzimmer, so lautete die Bedingung, oder?« Ein weiteres Lachen, an Häme kaum zu überbieten. »Ein Spottpreis, wenn man bedenkt, dass sein Wert um ein Vielfaches darüber liegt.«