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»Ich verstehe nicht, was …«

Erst im letzten Moment, als sich der Blick des Oberleutnants in den seinen versenkte, begriff Benjamin Kempa, dass er sich verkalkuliert hatte. Durch den Körper des 33-Jährigen ging ein Ruck, und während er den Stasi-Offizier am Kragen packte, begann sich die Welt um ihn herum zu drehen. Seine Pupillen verengten sich, die Atmung sank zu einem kaum wahrnehmbaren Lüftchen herab. Das Gesicht zu einer Fratze des Entsetzens verzogen, ergab sich der Dresdener, welcher die letzten acht Jahre seines Lebens hinter Gittern zugebracht hatte, in sein Schicksal. Der Kampf mit seinem Widersacher, über den sich das blutrote Licht der Morgendämmerung ergoss, war unwiderruflich vorbei.

Und er hatte ihn verloren.

»Mach’s gut, Genosse!«, höhnte der Oberleutnant, schüttelte Kempa ab und wandte sich mit angewiderter Miene zur Tür, gefolgt vom Stationsarzt, der den Sterbenden keines Blickes würdigte.

Kaum hatten die beiden seine Zelle verlassen, war Benjamin Kempa tot.

*

»Und was jetzt?«, fragte der Stationsarzt, ein Endfünfziger mit schlohweißem Haar, das die ideale Ergänzung zu seiner Montur darstellte. Alles an ihm war seriös, makellos, unauffällig: das Allerweltsgesicht, die mausgrauen, ans Farblose grenzenden Augen, der schmallippige Mund. Fast so unauffällig wie sein Gang, der ihm den Spitznamen ›Doktor Schleicher‹ beschert hatte. »Können Sie mir das vielleicht erklären?«

»Ich fürchte, hier gibt es nichts zu erklären«, antwortete der Stasi-Offizier, offenbar bester Laune. »Es sei denn, wie man von hier aus am schnellsten nach draußen kommt.«

»Durch die Tür«, zischte der Stationsarzt, mit den Gedanken noch immer beim toten Patienten von Zelle 5, und räumte ihm zähneknirschend den Vortritt ein. »Hier entlang.«

»Zu gütig«, bedankte sich der Offizier im besonderen Einsatz, den Stationsarzt auf den Fersen, dem es plötzlich nicht schnell genug gehen konnte. Vor der Gittertür angekommen, welche die geschlossene Abteilung mit der Außenwelt verband, blieb er schließlich stehen und wartete, bis sein Lakai sie entriegelt, aufgeschlossen und geöffnet hatte. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, Herr Doktor –«, flüsterte er dem Stationsarzt mit unbewegter Miene zu, den Türknauf in der feingliedrigen Hand, »sehen Sie zu, dass Sie Ihren unbequemen Patienten möglichst schnell loswerden.«

»Und wie, wenn man fragen darf? Ich kann ihn nicht so ohne Weiteres verschwinden lassen. Und wenn wir gerade dabei sind: Wer hat ihn denn auf dem Gewissen, Sie oder ich?«

»Vorschlag zur Güte, lieber Doktor«, raunte der Stasi-Offizier dem Stationsarzt über die Schulter und das Ächzen der Verbindungstür hinweg zu, welche sich soeben hinter ihm schloss, »wenn Sie schlau sind, vergessen Sie, was sich am heutigen Tage zugetragen hat. Sonst …«

Im Bewusstsein, sich den Rest des Satzes sparen zu können, zupfte der Oberleutnant seinen Seidenschal zurecht, begutachtete das Parteiabzeichen, das er auf dem Revers seines Anzuges trug, und strebte gemächlichen Schrittes dem Ausgang entgegen.

Der Stationsarzt, herrisch gegenüber seinen Untergebenen, ansonsten der geborene Duckmäuser, hatte verstanden.

Und machte sich an die Arbeit.

Zwei

Berlin / Warschau / Hyannis Port, Massachusetts

(16.06.1953)

Feuersturm

Königsberg / Ostpreußen,

(30.08.1944)

»Ich brauchte lange, bis ich vor dem Haus meiner Verwandten stand. Auch hier gab es lediglich Ruinen. In den Kellern glühte noch der Koks, und die Luft war von einem unangenehmen Geruch erfüllt. Weit und breit kein Mensch, den ich hätte fragen können. Mich packte das Grauen und ich hastete weiter. Später bekamen wir Nachricht, dass die ganze Familie Opfer eines Terrorangriffs geworden und unter Nummer sechstausendsoundsoviel begraben worden sei.«

Augenzeugenbericht über die Bombardierung Königsbergs durch die RAF in der Nacht vom 29. auf den 30. August 1944

5

Stadtzentrum | 01.02 h

Die Nacht, in der die Apokalypse über Königsberg hereinbrach, war wolkenverhangen, der vorletzte Tag im August, ein Mittwoch, gerade einmal eine Stunde alt. Der Wind, der vom Frischen Haff herüberwehte, roch bereits nach Herbst, und es schien, als würde dies eine Spätsommernacht wie jede andere werden.

Doch der Schein trog. Die fünfte Bombergruppe der Royal Air Force und ihre 189 Maschinen vom Typ Avro 683 Lancaster war nicht mehr weit. Zum Verdruss der Piloten, allen voran der Masterbomber, lag jedoch eine schützende Wolkendecke über der Stadt. Und so hatten sie keine Ahnung, wo genau sich ihr Zielgebiet befand.

Noch nicht.

Schon drohte den mit jeweils vier Rolls-Royce-Triebwerken, bis zu sechs Tonnen Bombenlast und acht MGs bestückten Maschinen der Sprit auszugehen, als sich mit 20-minütiger Verspätung die ersehnte Lücke auftat. Was folgte, war bloße Routine. Der Masterbomber, etwa 8.000 Meter über der Stadt, dirigierte die Markierer an Ort und Stelle. Kaum war dies geschehen, regneten Lichtkaskaden vom Nachthimmel herab, gleißend hell wie ein explodierender Stern. Kurz darauf, begleitet vom Sperrfeuer der deutschen Flak, hatte die letzte Stunde der Perle Ostpreußens geschlagen. Die Schalen des Zorns ergossen sich über der Stadt, und binnen Kurzem wurde die Nacht zum Tage. Die No. 5 Group, Eliteverband der Royal Air Force, kannte keine Gnade, weder jetzt noch im weiteren Verlauf des Krieges. Die tödliche Fracht in den Bombenschächten belief sich auf knapp 500 Tonnen, die aus einer Höhe von 4.000 Metern auf die Metropole am Pregel herabregneten, etliche der Sprengkörper fast 1.000 Kilo schwer. Es war ein Schauspiel, wie es selbst die Hartgesottenen unter den Piloten kaum je erlebt hatten, und der Feuersturm, der unter ihnen entfacht wurde, war mehr, als manche von ihnen ertragen konnten. Schlimmer als sämtliche biblischen Plagen zusammen bahnte er sich seinen Weg, begleitet vom Krachen unzähliger Explosionen, den Einschlägen der Stabbrandbomben und dem unaufhörlichen Phosphorregen, vor dem es kein Entrinnen gab. Nicht lange, und eine unaufhaltsame, alles vernichtende, auch noch das letzte Quäntchen Sauerstoff aufsaugende Feuerwalze rollte heran, die jeden, der sich im Freien aufhielt, in Sekundenbruchteilen tötete.

*

»Sie können da jetzt nicht raus, Herr Direktor!«, entschied der Luftschutzwart und blockierte kurzerhand die Bunkertür. Die Arme vor der Brust verschränkt, blickte der übergewichtige Mittfünfziger mit dem markanten Doppelkinn auf den 52-jährigen, mittelgroßen, mindestens einen Kopf kleineren Brillenträger hinab. Wenn hier jemand etwas zu melden hatte, dann er, mochte sich sein Kontrahent auch Doktor nennen, Kunstgeschichte studiert haben und einer der bekanntesten Bürger der Stadt sein.

»Und ob ich das kann!«, beharrte der unscheinbar wirkende Hanseate, seines Zeichens Direktor der Städtischen Kunstsammlungen von Königsberg. Obschon erst in den frühen 50ern, sah er wesentlich älter aus, gezeichnet von der parkinsonschen Krankheit, unter der er seit geraumer Zeit litt. »Es sei denn, Sie hindern mich mit Gewalt daran.«

Der Luftschutzwart, im Zivilleben Buchhalter, am heutigen Tage jedoch die personifizierte Autorität, rührte sich nicht vom Fleck. Als sei der Direktor Luft für ihn, rückte er seinen Stahlhelm zurecht, gab einen Stoßseufzer von sich und inspizierte den Tornister, in dem sich seine Gasmaske befand. Die Leuchtstoffplakette auf seiner Uniformjacke blitzte kurz auf, ebenso wie die graublauen, von sorgsam gestutzten Brauen überwölbten Augen. Ein Lächeln auf den farblosen Lippen, wandte er sich daraufhin wieder dem in seinen Augen überaus lästigen Querulanten zu. Von einem Zivilisten würde er sich nicht auf der Nase herumtanzen lassen, von einem der oberen Zehntausend schon gar nicht.