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»Wusste ich’s doch, dass Sie das interessiert, Herr Kommissar.«

»Das kannst du aber laut sagen«, erwiderte Sydow mit neu erwachter Energie, steckte das Foto ein und sah Morrell grinsend an. »Einsteigen, aber ein bisschen plötzlich!«

Fünf

Westberlin

(17.06.1953, am Nachmittag)

Schwalbe V

Berga an der Elster, Thüringen

(10.04.1945)

››Schwalbe V‹ war der Tarnname für eine der größten unterirdischen Baustellen in Hitlers Reich. Bis zu 1.800 KZ-Häftlinge aus Buchenwald, 800 Kriegsgefangene und 500 deutsche Bergleute gruben unter Aufsicht der ›Organisation Todt‹ eine Produktionsstätte in das Gestein der Hügellandschaft bei Berga, in der Heizöl zu Flugbenzin verarbeitet werden sollte. Kurz vor der Fertigstellung der gigantischen Untergrundraffinerie musste die Baustelle vor den anrückenden US-Truppen geräumt werden. In den folgenden Tagen wurden die Querstollen der Fabrikationsstätte gesprengt. Es war eine Präzisionsarbeit, die den Zugang zur Innenwelt verschloss. Was sollte die mühsame und gefährliche Sprengung für einen Sinn haben? Was mochte sich hinter dem Geröll verbergen? Weder die Amerikaner, die 1945 die Region besetzten, noch die Sowjets, zu deren Besatzungszone sie dann gehörte, hatten das abgeschottete Hydrierwerk jemals systematisch inspiziert. ›Schwalbe V‹ ist bis heute das größte unerforschte Geheimnis unter bundesdeutschem Boden. Alle halsbrecherischen Unternehmungen, in das Stollensystem vorzudringen, sind bislang gescheitert.‹

Guido Knopp: Das Bernsteinzimmer – dem Mythos auf der Spur. München 2003, S. 161f.

28

Berga an der Elster, in unmittelbarer Nähe der Front | bei Einbruch der Dunkelheit

Für sich anbahnende Katastrophen hatte Ole Jensen schon immer einen siebten Sinn gehabt. Hier, einen halben Kilometer vom Stolleneingang entfernt, sollte ihm dieser jedoch nichts nützen.

Dabei hatte sich alles so gut angelassen. Die 24 Kisten befanden sich an Ort und Stelle, Zeugen hatte es keine gegeben. Bis vor Kurzem war das unterirdische Stollensystem noch zur Herstellung von Treibstoff benutzt und erst am Vortag von der SS geräumt worden. Tausende hatten hier Tag für Tag rund um die Uhr bis zur Erschöpfung geschuftet. Kriegsgefangene, KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter. Wie umfangreich das unterirdische Labyrinth in Wahrheit war, konnte man beim besten Willen nicht sagen, auch nicht, wohin die einzelnen Schächte führten. Es gab Dutzende davon, darüber hinaus ein Gewirr von Gängen, Fabrikationshallen, Depots und Lagerstätten, wie geschaffen als Versteck für das Bernsteinzimmer und so unübersichtlich, dass man ohne Planskizze stundenlang herumgeirrt wäre. Genau das war ihm und den Kameraden jedoch erspart geblieben, dank der Karte, aus der von Oertzen beinahe eine Staatsaffäre gemacht hatte. Bislang hatte er sie wie einen Schatz gehütet, weder ihn noch Holländer oder Kempa einen Blick darauf werfen lassen. Überhaupt war der Herr Standartenführer mit wachsender Dauer der Operation Alberich zusehends nervös, um nicht zu sagen hektisch geworden. Kein Wunder, hatte es sich doch längst herumgesprochen, dass die Amerikaner nicht mehr weit weg waren und der Traum vom Endsieg nicht viel mehr als ein Trugbild war, das sich demnächst in Luft auflösen würde. Ab durch die Mitte, raus aus den Uniformen und untertauchen, solange es noch möglich war. So und nicht anders lautete die Losung für den Tag.

Doch so einfach, wie er sich das dachte, lagen die Dinge wahrscheinlich nicht. Ole Jensen konnte das Unheil förmlich riechen, lange bevor es über ihn, die Sondereinheit Alberich und die drei Lkw-Fahrer, die beim Transport des Zimmers mit eingespannt worden waren, hereinbrach.

Die Bahngleise, auf denen ein ausrangierter Tankwagen, Treibstoffbehälter und leere Ölfässer vor sich hinrosteten, waren bereits in Sichtweite, als Ole Jensen bemerkte, wie die Wände des Stollens urplötzlich in Bewegung gerieten. Nicht weiter schlimm!, machte er sich selbst Mut, so was kommt hier bestimmt öfter vor. Ein Blick auf Kempa, seinen Vordermann, überzeugte ihn vom Gegenteil. Der introvertierte Dresdener begann nämlich zu rennen, zumindest sah es so aus. Viel weiter als ein paar Meter kam er allerdings nicht, und was als Fluchtversuch begonnen hatte, wurde zu einer kläglichen Pantomime. Der Bergwerksingenieur stöhnte leise auf, zog die Schultern ein und blieb stehen.

Jetzt mach schon, du Idiot!, schoss es Jensen durch den Kopf, doch bevor er seinem Unmut Luft machen konnte, war es bereits zu spät.

»Wassereinbruch!«, schrie Kempa mit sich überschlagender Stimme, kurz bevor das Inferno über sie hereinbrach.

Erst im letzten Moment, für den Rest des Trupps viel zu spät, setzte sich Kempa in Bewegung, gefolgt von Jensen, der Mühe hatte, mit ihm Schritt zu halten. Holländer und von Oertzen waren da wesentlich besser dran, ihnen und den Lkw-Fahrern, drei blutjungen Wehrmachtsgefreiten, um mindestens 20 Meter voraus. Jensen sah weder nach rechts noch nach links, duckte sich und rannte um sein Leben. Das dumpfe Grollen aus dem Inneren des Berges nahm zu, wurde zu einem Rumpeln, am Ende gar zu einem Krachen, wie bei einer Kollision zweier Lokomotiven. Kurz darauf, nicht einmal einen Atemzug später, war es so weit. Die Decke über ihnen begann zu bröckeln, und ehe sich Jensen versah, schoss eine Wasserkaskade daraus hervor. Nass bis auf die Haut, rannte der baumlange Friese weiter, folgte den Bahngleisen, geriet ins Stolpern und lief wie von Furien gehetzt auf den Ausgang des Stollens zu, ohne einen Blick für seine Kameraden, die ihm im Abstand von wenigen Schritten folgten.

Innerhalb weniger Sekunden, die Jensen wie eine Ewigkeit vorkamen, sollte sich das ändern. Der Stollen, den er gerade hinter sich gelassen hatte, brach zusammen. Eine nicht enden wollende Gerölllawine rollte heran, zermalmte, zerquetschte und zerdrückte alles, was sich ihr in den Weg stellte. Tonnenweise Staub, scharfkantige Splitter und Gesteinsbrocken wirbelten durch die Luft, wie nach einer gewaltigen Explosion. Keuchend vor Anstrengung, rannte Jensen um sein Leben. Doch das Glück war ihm hold. Außer ein paar Kratzern, reichlich Staub auf der Uniform und einem Hustenanfall, der ihn mehrere Minuten außer Gefecht setzte, war der SS-Sturmbannführer mit heiler Haut davongekommen.

Nicht so die drei Gefreiten, die sich an Jensens Fersen geheftet hatten. Zwei von ihnen waren wie vom Erdboden verschluckt, irgendwo unter dem Schutthaufen begraben, der den Seitenstollen fast komplett ausfüllte. Der dritte lag leblos am Boden, nur der Oberkörper ragte aus einem riesigen Geröllhaufen hervor. Er gab keinerlei Lebenszeichen mehr von sich, bewegte sich nicht, wimmerte nicht, atmete nicht.

Oder etwa doch? Immer noch unter Schock, beugte sich Jensen vornüber und rang nach Luft. Das Klügste wäre gewesen, so schnell wie möglich abzuhauen, und die Versuchung, genau das zu tun, drohte übermächtig zu werden. Zu seinem Erstaunen trat jedoch das genaue Gegenteil ein. Er kehrte um. Jensen kannte sich selbst nicht mehr, tippte mit dem Zeigefinger gegen die Stirn. Auf so eine blöde Idee konnte wirklich nur er kommen, die Quittung dafür würde bestimmt nicht lange auf sich warten lassen.

Nur noch drei Schritte von der Geröllhalde entfernt, horchte der Friese auf.

»Hilf mir, Kamerad!«, hallte es ihm aus dem Halbdunkel entgegen, »mich hat’s erwischt.«

Na, du machst mir vielleicht Spaß!, dachte Jensen, stellte seine Grubenlampe ab und ging neben dem blutjungen Gefreiten in die Knie. Dessen Atem ging unregelmäßig, der Kopf war zur Seite geneigt, die Pupillen verdreht, der Mund halb offen. Blut trat hervor, anfangs nur ein kleines Rinnsal, wenig später ein regelrechter Strom. Jensen schauderte, der Anblick ging ihm unter die Haut. Man musste kein Experte sein, um zu erkennen, dass der arme Teufel keine Chance hatte, wenngleich er sich mit aller Macht gegen sein Schicksal sträubte.