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Und dennoch: Jensen konnte sich nicht dazu durchringen, ihn einfach liegen zu lassen.

»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte er und kannte sich beinahe selbst nicht mehr.

»Fröhlich.«

»Das weiß ich«, entgegnete Jensen und nickte dem höchstens 18 Jahre alten, dunkelblonden und hoch aufgeschossenen Lkw-Fahrer, mit dem er bisher keine drei Sätze gewechselt hatte, aufmunternd zu. »Mit Vornamen, meinte ich.«

»Karl.«

»Hör zu, Karl – ich denke, es ist am besten, wenn du so wenig wie möglich sprichst und dich nach Möglichkeit überhaupt nicht be…«

Der Rest des Satzes ging im qualvollen Stöhnen von Fröhlich unter. »Geben … geben Sie sich keine Mühe, Sturmbannführer«, presste er mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Mit mir geht’s zu Ende.«

»So was darfst du nicht sagen, Kamerad«, widersprach Jensen, insgeheim eher vom Gegenteil überzeugt. Nach Lage der Dinge hatte Fröhlich schwerste innere Verletzungen erlitten, kein Wunder angesichts der Felsbrocken, zwischen die der arme Tropf geraten war. »Nicht bewegen, das ist jetzt das Wichtigste.«

»Sehen … sehen Sie die Kette an meinem Hals?«, flüsterte der Gefreite, dermaßen leise, dass Jensen ihn beinahe nicht mehr verstand und so dicht wie möglich an den Sterbenden heranrückte. »Die habe ich von meiner Mutter.«

Jensen nickte, und obwohl er glaubte, ihn könne nichts mehr erschüttern, spürte er einen faustdicken Kloß im Hals.

»Sind Sie so gut und tun mir einen Gefallen?«

»Jeden, mein Junge, jeden«, hörte sich Jensen sagen und wurde das Gefühl nicht los, dass er dabei war, eine Riesendummheit zu begehen. »Schieß los.«

»Bringen Sie das Medaillon meiner Mutter zurück? Berlin-Kreuzberg, Großbeerenstraße Nummer …«

»Schon gut, Kamerad, will sehen, was sich machen lässt«, versicherte Jensen, richtete sich auf und machte sich daran, die Kette vom Hals des todgeweihten jungen Mannes zu lösen. Nach mehreren vergeblichen Anläufen, auf die Jensen mit einem unterdrückten Fluch reagierte, war es schließlich geschafft, das Sankt-Christophorus-Medaillon in seiner Uniformjacke verschwunden. »Kopf hoch – wird schon werden.«

»Das glauben aber auch nur Sie, Sturmbannführer.« Trotz der Schmerzen, die seine zerquetschten Gliedmaßen verursachten, rang sich der Sterbende ein mattes Lächeln ab. »Und Sie werden auch wirklich tun, worum ich Sie gebeten habe?«

»Nur keine Bange, meen Jong«, versicherte Jensen, erstaunt, dass er gerade in diesem Augenblick in den Jargon seiner friesischen Heimat verfiel. »Auf mich kannst du dich verlassen. Ich werde sämtliche Hebel in Bewegung setzen, um deinen Wunsch zu …«

»Einen Scheißdreck werden Sie tun, Sie Idiot!«, bellte eine ihm bestens bekannte Stimme dazwischen. »Sonst lasse ich Sie an die Wand stellen.«

Einen Blick im Gesicht, in dem sich seine abgrundtiefe Verachtung gegenüber von Oertzen spiegelte, rappelte sich Ole Jensen auf, klopfte den Staub von seiner Uniformjacke und drehte sich um. »Seit wann«, schäumte er, kurz davor, die Kontrolle über sich zu verlieren, »seit wann ist es eigentlich verboten, sich um einen sterbenden Kameraden zu kümmern?«

»Noch so eine impertinente Äußerung«, geiferte von Oertzen, während Holländer ebenfalls kehrtmachte und seine Karbidlampe auf die beiden Streithähne richtete, »und ich lasse Sie vor ein Kriegsgericht stellen. Nur, damit Sie Bescheid wissen.«

Jensen glaubte, er habe sich verhört. Noch nie in seinem Leben war ihm ein derart borniertes Arschloch über den Weg gelaufen, und er wusste nicht, ob er lachen, losbrüllen oder seinem Vorgesetzten schlicht und ergreifend an die Gurgel gehen sollte. »Tun Sie, was Sie nicht lassen können«, gab Jensen ungerührt zurück. »Und viel Glück bei der Suche nach einem Kriegsgericht.«

Einen kurzen Moment lang kehrte Stille ein, und es schien, als wolle das Echo von Jensens Stimme nicht verklingen.

Dann zog von Oertzen seine Dienstpistole. »Was war das da gerade eben?«, kläffte er und richtete die Waffe direkt auf Jensens Stirn. »Sag das noch mal, du friesischer Dorftrottel.«

Sein Kontrahent verzog keine Miene, wenngleich er innerlich vor Wut kochte. Auf sein Heimatdorf, nur einen Katzensprung von Emden entfernt, ließ er nichts kommen. Wenn ihn jemand auf die Palme brachte, dann Leute, die über die Friesen herzogen. »Falls es Ihnen nichts ausmacht«, gab Jensen mit vorgetäuschtem Gleichmut zurück, »würde ich es vorziehen, wenn wir uns weiter siezen.«

»Auch noch frech werden, das hab ich gern.« Die Hand am Abzug seiner Luger 08, bebte von Oertzen vor Zorn. »Zu Ihrer Information, Jensen: Ich hätte die drei Grünschnäbel sowieso liquidiert. Diesbezüglich sind die Weisungen, die mir der Reichsführer erteilt hat, glasklar.« Die Mimik von SS-Standartenführer Hans-Hinrich von Oertzen fror buchstäblich ein, und ein eisiger Blick beherrschte sein Gesicht. »Und darum, Sie impertinenter Klugscheißer, werden Sie jetzt den Weg freigeben und nicht weiter den barmherzigen Samariter spielen. So dumm, es sich mit mir zu verderben, sind nicht einmal Sie. Hab ich recht?«

»Und wenn nicht?«

»Dann werde ich Sie auf der Stelle über den Haufen schießen, Jensen. Und als Nächsten diesen Milchbubi da.«

»An Ihrer Stelle würde ich das besser bleiben lassen, von Oertzen. So, und jetzt runter mit der Pistole, sonst jage ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf.«

Curt Holländer, der sich seinem Vorgesetzten von hinten genähert hatte, meinte es ernst. Das merkte von Oertzen genau. Wütend auf Jensen, sich selbst und vor allem Holländer, der die Stirn besaß, sich gegen ihn aufzulehnen, ließ er die Waffe aus der Hand gleiten und knurrte: »Dafür werden Sie büßen, Holländer. So wahr ich Hans-Hinrich von Oertzen heiße.«

»Vorausgesetzt, Sie bekommen die Gelegenheit dazu«, parierte Holländer, stellte die Karbidlampe auf einen Felsblock und bückte sich blitzschnell nach der Waffe. »Doch so dumm, sich es mit mir zu verderben, sind nicht einmal Sie, oder?«

»Wenn ich Sie erwische, Holländer, können Sie Ihr Testament machen.«

»Nach Ihnen, Herr Standartenführer, nach Ihnen.« Gänzlich unbeeindruckt steckte Holländer die Luger in seinen Gürtel und drückte von Oertzen die Mündung seiner Mauser so heftig in den Nacken, dass dieser unwillkürlich zusammenzuckte. »Die Karte, von Oertzen, aber ein bisschen plötzlich.«

»Das wird Sie teuer zu stehen kommen, Vaterlandsverräter.«

»Die Karte, oder ich muss zu anderen Methoden greifen, du Schrumpfgermane.«

»Ich hab’s ja gleich gewusst!«, knirschte von Oertzen, außer sich vor Wut. »Aber der Reichsführer wollte ja nicht auf mich hören. ›Fachleute‹ – wenn ich das schon höre. Ein Sprengstoffexperte und zu allem Überfluss auch noch ein Kunsthistoriker. Verlässliche Parteigenossen wären mir wesentlich lieber gewesen. Lieber jedenfalls als zwei raffgierige Verräter, die nichts Besseres im Sinn haben, als sich auf schamlose Weise zu bereichern.«

»Drei, Standartenführer, drei.« An Benjamin Kempa, der wie aus dem Nichts auftauchte, hatte keiner der drei auch nur einen Gedanken verschwendet. Das sollte sich ändern, weit mehr, als es von Oertzen lieb sein konnte. »Die Karte, Sie Menschenschinder«, fuhr der Dresdener ihn an, ließ sich von Holländer die Luger aushändigen und blieb neben dem Paladin Himmlers stehen. »Sie haben richtig gehört«, karrte der sonst so zurückhaltende, mindestens um einen Kopf kleinere Spezialist für das Bergwerkswesen nach. »Die Planskizze von Schwalbe V, aber zackig!«

»Dafür werden Sie mir büßen, Kempa«, grollte von Oertzen und förderte aus der Innentasche seiner Uniformjacke einen aus vier Blättern bestehenden Faltplan zutage. »Das garantiere ich Ihnen.«