»Nicht so voreilig, von Oertzen, sogar Sie werden auf Ihre Kosten kommen.« Zum Entsetzen seiner Kameraden, die ihn wie eine Erscheinung aus dem Jenseits anstarrten, ließ sich Benjamin Kempa die Karte aushändigen, warf einen Blick darauf und zerriss sie anschließend in vier Teile. »So, das wäre geschafft«, stellte er aufatmend fest und gab ein schrilles Kichern von sich. Im Schein der Karbidlampe sah er wie ein dem Erdreich entstiegener Kobold aus, und es schien, als sei er nicht mehr ganz richtig im Kopf. »Alles brüderlich geteilt!«, rief er freudestrahlend aus. »Damit mir nur ja niemand auf falsche Gedanken kommt.«
Über das Gesicht des SS-Sturmbannführers huschte ein hinterlistiges Grinsen, und ehe es sich Holländer versah, spürte er die Mündung der Luger an seiner Schläfe. »So leid es mir tut, lieber Curt –«, stieß er achselzuckend hervor, neigte den Kopf zur Seite und blinzelte Holländer treuherzig an, »um ganz sicherzugehen, benötige ich deine Waffe.«
»Sag mal, hast du eigentlich noch alle Tassen …?«
»Mein Problem, Herr Obersturmbannführer a. D.«, fauchte Kempa zurück, entwand Holländer die Waffe und warf sie Ole Jensen zu. »Und jetzt mach, dass du fortkommst, Professor, bevor ich dir eine Kugel durch den Kopf jage.«
»… im Schrank, Kleiner?«, schrie Holländer, drauf und dran, sich auf Kempa zu stürzen. Doch dann, im Angesicht der entsicherten Waffe, besann er sich, funkelte seinen Kontrahenten an und wich mit erhobenen Händen zurück. »Solltest du mir jemals wieder über den Weg laufen«, schäumte er, den Zeigefinger drohend in die Höhe gereckt, »werde ich dir die Rechnung präsentieren, Benjamin.« Im Anschluss daran spie er aus, machte kehrt und sah zu, dass er davonkam.
»So, Herr Standartenführer«, wandte sich Kempa daraufhin wieder seinem Vorgesetzten zu. »Jetzt zu Ihnen. Da ich Tierliebhaber bin, werde ich mich damit begnügen, Sie eine Weile in Schach zu halten. Damit sich unser gemeinsamer Freund Jensen endlich um unseren verletzten Kameraden kümmern kann. Zufrieden, Ole?«
Kempas Frage verhallte ungehört, und es verging fast eine Minute, bis der Dresdener eine Antwort bekam.
»Wie man’s nimmt, Benjamin«, erhob sich Jensens Stimme, gedämpft und so kraftlos, dass Kempa erschrocken zusammenfuhr. »Melde gehorsamst, Herr Ingenieur: Der arme Teufel hat’s hinter sich.«
*
»Da geht er hin und kehrt nie wieder«, brummte Ole Jensen missvergnügt vor sich hin, nachdem von Oertzen im Schutz der Dunkelheit verschwunden war. »Ich glaube, das war ein Fehler, Benjamin.«
»Ihn einfach so entwischen zu lassen, meinst du?« Benjamin Kempa trat frierend auf der Stelle und blieb seinem Kameraden die Antwort schuldig. Es war kalt hier draußen, lausig kalt sogar. Am Fuße des Steilhangs, der unmittelbar ans Ufer der Elster grenzte, herrschte Totenstille, und der Eingang zum Stollen 1 sah wie das Tor zur Unterwelt aus. Aus der Ferne drang Geschützlärm an sein Ohr, die Zeit, so schien es, lief ihnen unweigerlich davon. Spätestens morgen früh, vielleicht aber auch schon in ein paar Stunden, würden die Amerikaner anrücken. Bis dahin musste die Operation Alberich beendet, die Spuren ihres Tuns beseitigt sein. »Sei’s drum, wir machen uns besser auf die Socken.«
»Scheiß Bergwerk, verdammtes.«
»Das kannst du laut sagen«, stimmte Kempa zu und verfiel in dumpfes Brüten. Dann blickte er auf, lächelte und sagte: »Na ja, wenigstens bist du auf die Art noch zu einer neuen Uniform und einem Paar ausgelatschter Stiefel gekommen. Wirklich schick, Ole, wie aus dem Ei gepellt.«
»Weißt du vielleicht was Besseres, Benjamin?«, ereiferte sich Jensen und ließ den Blick zu den Wracks der drei Lkws schweifen, die er soeben in die Luft gejagt hatte. »Wie ich ihn kenne, hätte Fröhlich bestimmt nichts dagegen gehabt. Was nützt es dem armen Teufel, wenn er in seiner Uniform be…«
»Schon gut, Ole, schon gut – heutzutage muss jeder sehen, wo er bleibt.«
»Und du, Benjamin – was wird aus dir?«
»Aus mir?« Kempa gab ein wehmütiges Lachen von sich. »Erst mal nach Hause, würde ich sagen.« Der Dresdener seufzte, und sein Atem zeichnete gespenstische Figuren in die frostklare Luft. »Nicht ganz leicht, nach allem, was man so hört. Sieht so aus, als müsste ich mich beeilen. Sonst liegt daheim kein Stein mehr auf dem anderen. Sehr lange werden die Russen bestimmt nicht mehr brauchen, um Berlin in einen Trümmerhaufen zu verwandeln.«
»Ein Grund mehr, zusammenzubleiben, findest du nicht?«
»Gut möglich.« Kempa senkte den Blick, darauf bedacht, Jensen nicht in die Augen sehen zu müssen. »Trotzdem glaube ich, jeder von uns sollte es auf eigene Faust probieren. Gemeinsam zuschlagen, getrennt marschieren – ist wahrscheinlich besser so.«
Jensen lächelte gequält. »Ganz wie du willst, Benjamin«, flüsterte er, gab ein Verlegenheitsräuspern von sich und drückte Kempas Hand. »Dann mach’s mal gut, Benjamin.«
»Du auch, Ole.«
»Tschüss«, flüsterte Jensen vor sich hin und winkte der Gestalt, die mit weit ausholenden Schritten den Bahngleisen zustrebte und kurz darauf in die Dunkelheit eingetaucht war, noch lange hinterher. »Und viel Glück.«
Kurze Zeit später, allein auf weiter Flur, unterzog er den Sprengkasten, der sich in gebührendem Abstand vom Stolleneingang befand, einer letzten Inspektion, schloss die Augen und drückte den Hebel bis zum Anschlag hinunter.
29
Berlin-Kreuzberg, Großbeerenstraße | 13.20 h
»Ob Sie es hören wollen oder nicht, Herr Jensen –«, schloss die verhärmte, vor der Zeit gealterte und leicht gebeugt gehende Gemischtwarenhändlerin und brachte die Kaffeetasse ihres unverhofften Besuchers beinahe zum Überlaufen, »das, was Sie für meinen Karl getan haben, macht Ihnen so schnell keiner nach. Nichts da, nichts da, ich weiß, was Sie jetzt sagen wollen. Das war doch wohl selbstverständlich. Nee, Herr Jensen, war es eben nicht. Mal ehrlich: Sie hätten es sich ja ganz einfach machen können und zu den Amis überlaufen oder sich einfach Richtung Heimat verdrücken können. Stimmt’s oder hab ich recht? Na also.«
Luise Fröhlich, nach Kriegsende unter anderem Trümmerfrau, Hilfsarbeiterin und Straßenbahnschaffnerin, die zur Feier des Tages Bohnenkaffee gekocht hatte, stellte die Kanne ab und bekräftigte ihre Worte durch ein entschiedenes Nicken.
»Zeigt den Amis die Hacken, mogelt sich durch die russischen Linien und riskiert, dass er kurz vor knapp noch eine Kugel verpasst bekommt. Und das alles nur, um den letzten Wunsch eines Sterbenden, meines Sohnes, zu erfüllen. Alle Achtung, junger Mann, das verdient Respekt. Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören, Herr Jensen – aber dafür haben Sie einen Orden verdient.«
»Reichlich spät dafür, finden Sie nicht auch?«
In Erinnerungen schwelgend, nahm die waschechte Schlesierin von Jensens Verfassung kaum Notiz. Für sie war er ein Held, daran gab es nichts zu rütteln. »Acht Jahre Knast – das muss man sich mal vorstellen«, ereiferte sich die alleinstehende Dame, in deren guter Stube Jensen gerade saß. »Und das alles nur wegen irgendeines Nachbarn, der Sie bei den Russen verpfiffen hat.«
»Drei Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner.«
»Genau.« Luise Fröhlich legte die mit Gichtknoten übersäten Hände aneinander und blickte nachdenklich vor sich hin. »Ende Juni 45, ich weiß«, sinnierte sie, das Gesicht von tiefen Falten durchzogen. »Wenn ich wüsste, wer Sie denunziert hat, würde ich mit dem Betreffenden mal ordentlich Tacheles reden.«
»Lieber nicht«, fiel Jensen der 53-jährigen Mutter seines ehemaligen Schützlings ins Wort und warf einen Blick auf die gerahmte Fotografie, die auf der Kommode neben der Wohnzimmertür stand. »Wozu auch?«
»Er war ein stattlicher junger Mann, nicht wahr?«