»Und was für einer«, beeilte sich Jensen zu versichern, das Bild eines unter tonnenschwerem Geröll begrabenen und mit dem Tode ringenden Kameraden vor Augen, dessentwillen er beinahe vor die Hunde gegangen wäre. Auf die Idee, im belagerten Berlin unterzutauchen, hatte wirklich nur ein Vollidiot wie er kommen können. »Nur leider eben zu früh gestorben.«
»Wenigstens weiß ich, wo er begraben liegt.«
»Immerhin etwas, da haben Sie recht«, murmelte Jensen, in Gedanken bei jener Nacht vor acht Jahren, als er den Stollen von Schwalbe V in die Luft gejagt und sich anschließend bis hierher durchgeschlagen hatte. Dass der Gefreite Fröhlich nicht etwa von einer feindlichen Kugel, sondern von Unmengen Schutt, Geröll und Felsbrocken zur Strecke gebracht worden war, hatte er verschwiegen. So genau, fand er, brauchte das Frau Mama auch nicht zu wissen. Manchmal kam man um eine kleine Notlüge eben nicht herum. »Wäre diese amerikanische Granate nicht gewesen, könnte er immer noch leben.«
»Schicksal, Herr Jensen, da kann man nichts machen«, seufzte Luise Fröhlich, erhob sich und öffnete die oberste Schublade der Kommode, in der sie die wenigen Habseligkeiten aufbewahrte, die den Krieg heil überstanden hatten, unter anderem auch das Medaillon, auf dessen Vorderseite der heilige Christophorus zu erkennen war. »Ein Erbstück von meinem Großvater«, verriet sie, das Andenken an ihren Sohn in der flachen Hand. »Hätte meinem Karl Glück bringen sollen. Ich hab’s mir jeden Tag angeschaut – wie im Übrigen auch Ihre Uniform, Ole. Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie mit dem Vornamen anrede, oder?«
»I wo, Frau Fröhlich, wo denken Sie hin!«, beteuerte Jensen, dem Ziel seines Besuches einen Riesenschritt näher, wenngleich er sich reichlich schäbig, um nicht zu sagen wie der letzte Mensch vorkam. ›Ihre Uniform‹ – denkste!, fuhr es ihm durch den Sinn, voller Verachtung für sich selbst und die Schmierenkomödie, welche er gerade inszenierte. Um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, deshalb spielte er lieber den Ahnungslosen. »Wenn mich jemand duzen darf, dann Sie.« Jensen räusperte sich und nippte an seiner Tasse. »Wenn wir gerade dabei sind, Mutter Fröhlich …«, druckste er herum, »würde es Ihnen etwas ausmachen, mir die Uniform kurz zu …, aber nur, falls es Ihnen nichts …«
»Es ist wegen der Stiefel, stimmt’s?«
Wie vom Donner gerührt, zuckte Jensen zusammen, stammelte ein paar zusammenhanglose Worte und verstummte.
»Wegen des ausgehöhlten Absatzes, in dem diese Karte versteckt war.« Als sei nichts geschehen, legte Luise Fröhlich das Medaillon wieder in die Schublade, ließ ihren Gast links liegen und trat ans Wohnzimmerfenster, von wo aus sie einen auf der gegenüberliegenden Straßenseite geparkten BMW 501 beobachtete, dessen Fahrer nervös auf dem Steuer herumtrommelte. »Beziehungsweise das, was von ihr übriggeblieben ist.«
»Tut mir leid, Mutter Fröhlich, aber es ist so, dass …«
»Muss es nicht, junger Mann, muss es nicht. Der Krieg hat eben seine eigenen Gesetze, verändert die Menschen von Grund auf, verdirbt sie bis ins Mark. Warum, frage ich mich, sollten ausgerechnet Sie da eine Ausnahme sein? Ein bisschen viel verlangt, finden Sie nicht auch?«
»Und woher …«
»Weshalb ich so genau im Bilde bin, wollen Sie wissen? Karl hat mir geschrieben, das letzte Mal mit Datum vom 30. Mai. Feldpostbrief, bezeichnenderweise ohne Absender. Er und zwei andere Kameraden würden in Kürze zu einem geheimen Kommandounternehmen abkommandiert, hieß es da. Unter Federführung der SS. Sicherstellung von Kunstschätzen, aber das sei nur so ein Gerücht. Keine Ahnung, wieso der Brief nicht zensiert worden ist. Hing wahrscheinlich mit dem allgemeinen Chaos zusammen, was weiß ich.« Luise Fröhlich zog den Vorhang, den sie im Verlauf des Gesprächs einen Spaltbreit geöffnet hatte, wieder zu und ließ ihren Blick auf einem sichtlich geknickten Ole Jensen ruhen. »Ein Freund von Ihnen?«, fragte sie geraume Zeit später und deutete über die Schulter hinweg zum Fenster.
»Das nun nicht gerade«, bekannte Jensen zerknirscht.
»Sondern?«
»Das genaue Gegenteil davon.«
»Verstehe«, antwortete Luise Fröhlich. Und wechselte rasch das Thema: »Sie sind kein gewöhnlicher Landser gewesen, stimmt’s?«
Jensen verneinte. »Wie sind Sie drauf gekommen?«
»Auf Ihr Versteck im Stiefelabsatz? Purer Zufall.« Luise Fröhlich strich sich über die grauen, wie eine Eins gescheitelten und zu einem Knoten geflochtenen Strähnen. »Irgendwann habe ich mir gedacht, es sei an der Zeit, Ihre Stiefel wieder auf Vordermann zu bringen. Vor allem den linken, der war ganz schön ausgelatscht. Ich denke, Sie können sich vorstellen, wie dumm ich aus der Wäsche geguckt habe.«
»Seine Stiefel, Frau Fröhlich, nicht meine.«
Die Augen auf das Porträt ihres Sohnes an der Wand gerichtet, verstrichen Minuten, bis Luise Fröhlich eine Reaktion zeigte. »Mit anderen Worten: Sie haben seine Uniform angezogen, um nicht sofort als SS-Mann entlarvt zu werden.«
»Genau.«
»Na, wenn schon – an dem, was Sie für meinen Sohn getan haben, ändert das nichts«, entschied die resolute Dame, nahm den Rahmen mit dem Bild ihres Sohnes auseinander und förderte einen versiegelten Umschlag zutage, der zwischen der Fotografie und der Rückseite des Rahmens deponiert gewesen war. »Hier, junger Mann«, sprach sie im Flüsterton, drückte ihm den Brief in die Hand und ging daran, den Inhalt der Schublade komplett zu durchwühlen, »somit wären wir quitt.«
»Auf jeden Fall, Frau Fröhlich, und vielen Dank.«
»Keine Ursache, Herr Jensen, keine Ursache«, flüsterte Luise Fröhlich ihrem Gast zu und begutachtete einen Wehrmachtsdolch, den sie soeben aus der Kommode gekramt hatte. »Sein Dolch –«, betonte sie mit wehmütigem Lächeln und bot ihn Jensen wie eine Morgengabe dar. Die Lippen fest aneinandergepresst, ging ihr Blick ins Leere. »Wer weiß«, flüsterte sie wie zu sich selbst, »wer weiß, wozu das Ding noch gut sein wird.«
30
Berlin-Charlottenburg, Café Kranzler am Kurfürstendamm | 13.35 h
»Lange Rede, kurzer Sinn –«, rekapitulierte Sydow am Ende von Krokowskis Rapport, »du bist der Meinung, dass es sich bei dem Kerl auf dem Bild und dem Mann, der den Fahrer der BMW-Maschine ins Jenseits befördern wollte, um ein und dieselbe Person gehandelt haben könnte.«
»Durchaus, das heißt, falls man der Beschreibung des Opfers trauen kann.« Eduard Krokowski trank sein Mineralwasser leer, was bei Sydow einmal mehr für Kopfschütteln und verständnisloses Augenrollen sorgte. »Also, wenn du mich fragst, Tom …«
»Tue ich, Eduard, falls du’s noch nicht gemerkt haben solltest.«
»… die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um zwei verschiedene Personen handelt, ist meines Erachtens relativ gering. D’Artagnan-Bart, gepflegte Kleidung, überhaupt das ganze Aussehen – ich denke, wir sind dem Richtigen auf der Spur.«
»Nerven hat der Kerl, das muss man ihm lassen.« Sydow leerte seine Tasse, bestellte sich noch einen Mokka und studierte das Bild, auf dem zwei Männer in einer Corvette, entsetzt zurückweichende Zollbeamte, wild gestikulierende GIs und eine zu Bruch gegangene Schranke zu erkennen waren, zum wiederholten Mal. Man musste schon verdammt abgebrüht sein, um so ein Ding durchzuziehen. Daran bestand kein Zweifel. Hier war ein Profi am Werk gewesen, abgezockt, berechnend und eiskalt. In diesem Punkt glichen sich die Schilderungen des Motorradfahrers und diejenigen von Nahler und Liebermann bis aufs Haar. Anscheinend stand für diesen Fatzke eine Menge auf dem Spiel, sonst wäre er nicht so rabiat vorgegangen. Wobei das Wort ›rabiat‹ die Wahl der Mittel, deren er sich bedient hatte, nur höchst unzureichend beschrieb. Folterungen wie im Mittelalter, Mord, Fahrerflucht – und das alles, um einem seit acht Jahren verschollenen Artefakt auf die Spur zu kommen. Sydow wurde nachdenklich. Irgendetwas passte hier nicht zusammen, zumindest nicht richtig. Um sich vorzustellen, dass die Stasi hinter dem Bernsteinzimmer her war, bedurfte es keiner großen Fantasie. Befände es sich erst in ihrem Besitz, würden die Jungs aus der Normannenstraße bei den Russen ordentlich Punkte sammeln können. Allein das, so Sydows Fazit, ergäbe bereits ein plausibles Motiv. Wenn, ja wenn Mielke und Co. derzeit nicht ganz andere Sorgen hätten. Einen Aufstand niederschlagen und gleichzeitig Jagd auf das Bernsteinzimmer machen? Höchst unwahrscheinlich, wenn nicht gar ausgeschlossen. Folglich musste ein anderes Motiv herhalten. Die Frage war nur, welches. Zumal die Stasi mit Sicherheit nicht darauf aus war, sich mit den Amis anzulegen. Und genau das war es, was der Kerl hinter dem Steuer der Corvette heute Morgen getan hatte. Mit einer Kaltblütigkeit, die ihresgleichen suchte.