»Der mir eine derartige Hiobsbotschaft überbringen musste, meinst du?«, sprang Lea von Oertzen, der seine Befangenheit nicht entgangen war, bereitwillig in die Bresche. »Darf ich dir etwas anvertrauen, Tom? Etwas, das dich vermutlich überraschen wird?«
»Na klar, Lea – was immer du auf dem Herzen hast.«
Die Dame des Hauses lächelte, wurde jedoch umgehend wieder ernst und blickte mit angespannter Miene zum Fenster hinaus. Tief in Gedanken, folgte ihr Blick dem hufeisenförmigen Pfad, der sich an einem Birkenwäldchen vorbei zum Bootssteg schlängelte. »Ich habe es kommen sehen, Tom. All die Jahre über habe ich es kommen sehen.«
»Hört sich ziemlich deprimierend an.«
»War es auch, Tom – falls du die Erfahrungen meinst, die ich während meiner Ehe mit Hans-Hinrich machen musste.«
»Wann habt ihr beide geheiratet?«
»Exakt vier Jahre, nachdem sich ein gewisser Tom Sydow am Ende der Sommerferien wieder Richtung England verabschiedet hatte. Von dem ich zwar noch zwei, drei Briefe bekam, danach aber nichts mehr gehört und noch weniger gesehen habe.« Lea von Oertzen senkte den Kopf und fuhr mit der Hand an der rechten Schläfe entlang. »Der größte Fehler meines Lebens, wenn du es genau wissen willst.«
»Aber …«
»Kein ›Aber‹, Tom«, ließ ihn die dunkelblonde, ein wenig zu schlanke und für ihr Alter beinahe jugendlich wirkende Hausherrin erst gar nicht ausreden. »Ich weiß genau, wovon ich rede. Falls du auf Veronika anspielst – sie ist der Grund, weshalb ich nicht schon frühzeitig einen Schlussstrich gezogen habe.«
»Liegt es«, tastete sich Sydow mit der gebotenen Vorsicht voran, »liegt es womöglich daran, dass dein Mann während des Dritten Reiches Karriere gemacht hat?«
Lea von Oertzen musste wider Willen schmunzeln. »Nur keine falsche Rücksichtnahme, Tom«, ermunterte sie ihn. »Ja, das war der Grund«, räumte sie ein, »aber nicht nur.«
»Sondern?«
»Sondern weil er einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hatte. Karriere zu machen ist eine Sache, mit Verbrechern zu paktieren dagegen eine andere.«
»Will heißen: Er war in der SS.«
Sie nickte. »In meiner Naivität wollte ich es zunächst nicht wahrhaben, worauf sich Hans-Hinrich da eingelassen hatte. Später, während des Krieges, ist mir dann allmählich ein Licht aufgegangen. Aber da war es längst zu spät.«
»Kriegsverbrechen?«
»Mehr, als man sich vermutlich vorstellen kann«, antwortete die hochgewachsene Frau, bemüht, nach außen hin gefasst zu wirken. »Oder will – je nachdem. So ungeheuerlich, dass seine Schuld niemals getilgt werden kann.«
»Wie hast du davon erfahren?«
»Vor nicht ganz drei Wochen.«
Sydow hielt es nicht mehr auf dem Sofa aus. »Wie bitte?«, stieß er ungläubig hervor, auf dem besten Weg, jeglichen Kredit zu verspielen. »Das meinst du doch wohl nicht ernst.«
»Typisch Kriminalist«, lautete die verbitterte Replik, »kein Vertrauen, nicht einmal zu mir.«
»Tut mir leid, Lea, ich tue doch nur meine …«, beeilte sich Sydow, seinen Schnitzer wiedergutzumachen, wurde jedoch jäh unterbrochen.
»Pflicht, Treue, Ehre und diese ganzen abgedroschenen Floskeln – du glaubst gar nicht, wie mich das anekelt, Tom.«
»Dann lass uns über etwas anderes reden.«
»Schon gut, Tom – besser jetzt als nie.«
»Mir kannst du alles sagen, das weißt du.«
Ein wehmütiges Lächeln im Gesicht, drehte sich Lea von Oertzen, geborene von Hardenberg, zu ihrem Jugendfreund um. Sydow war wie betäubt, so hinreißend kam sie ihm vor. Hellblaue Augen, weiche, von hohen Wangenknochen gesäumte Gesichtszüge, winzige, ungeheuer anziehend wirkende Lachfalten – man musste schon ziemlich bescheuert sein, wenn man diese Frau links liegen ließ. Oder Hans-Hinrich von Oertzen heißen.
»Wie wir uns auseinandergelebt haben, willst du wissen?«, las Lea von Oertzen ihrem Besucher die Gedanken von den Augen ab. »Er hat mich betrogen, so oft, dass es mir zuletzt nichts mehr ausgemacht hat.«
»Und woran ist er gestorben?«
»Kehlkopfkrebs.«
»Der Grund für eine abschließende Generalbeichte?«
Von Oertzens Witwe nickte. »So könnte man es nennen, Tom. Seltsam – aber er hatte wahnsinnige Angst vor dem Sterben. Kein Wunder, wenn man bedenkt, was er alles verbrochen hat. Geiselerschießungen, Standgerichte, Kampf bis zum letzten Mann – um nur einige seiner Gräueltaten zu nennen.«
»Mit einem Wort: ein ganz Fanatischer.«
»Treffend formuliert, Herr Kriminalhauptkommissar«, scherzte Lea von Oertzen, nicht etwa in Schwarz, sondern mit einem cremefarbenen Kostüm samt hautenger Bluse bekleidet. »Einen geeigneteren Mann hätte Himmler für dieses Himmelfahrtskommando nicht finden können.«
»Himmelfahrtskommando?«
»Lass gut sein, Tom Sydow – deswegen bist du doch hier, oder?«
»Sagen wir’s mal so – deswegen bin ich hergekommen.«
»Wie dem auch sei –«, wich Sydows Gesprächspartnerin rasch aus, »der Auftrag Himmlers, das Bernsteinzimmer beiseitezuschaffen, kam ihm anscheinend wie gerufen. Man stelle sich das einmal vor: Das Tausendjährige Reich liegt in Trümmern, und Hans-Hinrich hat nichts Besseres zu tun, als für Himmler die Kastanien aus dem Feuer zu holen.«
»Heißt das, er hat seinen Auftrag erledigt?«
Ein Schatten legte sich über Lea von Oertzens Gesicht. »Hat er, Tom, hat er. Mein Gatte und drei weitere Mitglieder eines Sonderkommandos der SS.«
»Unbemerkt?«
»So gut wie. Ein paar Wochen amerikanische Gefangenschaft, und das war’s dann auch schon. Der Krieg war noch nicht richtig vorbei, da befand er sich wieder auf freiem Fuß.«
»Wie das?«
»Anscheinend hat er den Yankees weismachen können, er sei nur eine subalterne Charge gewesen. Und das trotz Blutgruppentätowierung. Sei’s drum. Nach dem Krieg hat er rasch wieder Fuß fassen können, zuerst als Immobilienmakler, später in der Politik. Vor knapp zwei Jahren, genauer gesagt im September 1951, ist er dann von Lüneburg nach Berlin versetzt worden.« Lea von Oertzen atmete tief durch. »So, und jetzt weißt du alles, Tom – wie wär’s, wenn wir beide noch eine Tasse Kaffee …«
»Danke, Lea, vielleicht später.«
Im Begriff, wieder Platz zu nehmen, horchte die Hausherrin auf und sah Sydow prüfend an.
»Nimm es mir nicht übel, Lea, aber ich muss unbedingt wissen, wer …«
»… der Kerl war, der diese Ruchlosigkeit begangen hat?«
Sydow wich ihrem Blick aus und lief rot an. »Genau.«
»Ich habe Angst, Tom. Um mich und Veronika. Kannst du das nicht verstehen?«
»Solange ich da bin, Lea«, flüsterte Sydow und erkannte sich selbst nicht wieder, »brauchst du vor nichts und niemandem auf der Welt Angst zu haben.«
»Ich weiß, Tom, ich weiß.« Auge in Auge mit dem übernächtigten, unrasierten und linkisch wirkenden Kripo-Beamten, in dessen Gegenwart sich ihre Ängste in Nichts auflösten, stieß Lea von Oertzen einen leisen Seufzer aus, lächelte und sagte: »Also gut, Tom – dann nehme ich dich beim Wort.« Und fügte mit kaum hörbarer Stimme hinzu: »Er heißt Holländer, Tom, SS-Obersturmbannführer Curt Holländer, er ist vergangenen Donnerstag hier aufgetaucht und hat damit gedroht, Veronika und ich würden den nächsten Tag nicht erleben, falls wir nicht bereit seien, mit ihm zu kooperieren.« Lea von Oertzens Miene verhärtete sich. »Kooperieren – genau so hat er sich ausgedrückt. Pech für ihn, dass Hans-Hinrich darauf gedrungen hat, sein Geheimnis mit ins Grab zu nehmen.«
»Ein Fragment der Karte, auf der das Versteck des Bernsteinzimmers verzeichnet ist?«
»Richtig. Keine Ahnung, ob ich richtig gehandelt habe oder nicht – aber ich habe es nicht fertiggebracht, seinen letzten Wunsch zu ignorieren.«
»Und dieser Holländer?«
»Glaubt mir nicht, beschimpft mich, stößt finstere Drohungen aus, unter anderem, Veronika könne etwas zustoßen. Die Stasi sei auf derlei Fälle spezialisiert, ließ er mich wissen.« Lea von Oertzen besann sich und sah Sydow besorgt an. »Sieht so aus, als schrecke dieser Holländer vor nichts zurück.«