»Da muss ich dir recht geben, Lea. Fragt sich nur, was dieses Dreckschwein noch alles in petto hat.«
»Ganz gleich, was er vorhat, Tom – gegenüber dem Helden meiner Teenagerjahre wird er das Nachsehen haben. Jede Wette.«
Sydow errötete bis in die Haarspitzen. »Was macht dich so sicher, Lea?«
»Ganz einfach. Ich weiß, wo sich das Zimmer befindet.«
Sydow glaubte, er habe nicht richtig gehört. »Du weißt …«, stammelte er, irritiert wie selten zuvor, »du weißt was?«
Die Augen seiner Gesprächspartnerin sprühten nur so vor Belustigung. »Du hast richtig gehört, Junker von Sydow. Bevor ich das Geheimnis lüfte, bist jedoch erstmal du an der Reihe. Beziehungsweise die Verletzung, die du die ganze Zeit über so mannhaft zu kaschieren versucht hast. Der linke Oberschenkel, hab ich recht? Keine Widerrede, Tom – so viel Zeit muss einfach …«
Sydow war dermaßen durcheinander, dass er das Läuten des Telefons beinahe überhört hätte. Erst als ihm die Hausherrin einen Wink gab, drehte er sich um und humpelte an den Apparat.
»Für dich, Tom – ein gewisser Herr Krokowski.«
»Sydow hier, was gibt’s?« Kaum hielt er den Hörer am Ohr, fiel Sydow aus allen Wolken. Sein Atem beschleunigte sich, und obwohl er es besser wusste, beschlich ihn das Gefühl, Krokowski erlaube sich einen Scherz mit ihm. »Kuragin?«, keuchte er und warf einen hastigen Blick auf die Uhr. »Und wann?« Mit jeder Sekunde, die verstrich, eine Idee bleicher im Gesicht, hörte Sydow gebannt zu. »Und wo? In Ordnung – schick mir einen Streifenwagen her, und zwar schnell. Alarmstufe eins, na klar. Alle verfügbaren Kräfte zusammenziehen, ohne Rücksicht auf Dienstschluss oder sonstige Wehwehchen. Ich verlasse mich auf dich, hörst du? Bis später, Eduard. Ende!«
»Irgendetwas nicht in Ordnung?«
»Erzähl ich dir später, Lea«, vertröstete Sydow von Oertzens Frau, von der er sich nur mit Mühe losreißen konnte, legte auf und begab sich eilig zur Tür. Dort wiederum drehte er sich um und fragte: »Wenn wir gerade dabei sind, Lea, schon mal etwas von einem gewissen Ole Jensen gehört?«
Die Angesprochene nickte. »Einer der vier Musketiere – wieso?«
Sydows Miene verfinsterte sich. »Gut möglich, dass ich demnächst die Klingen mit ihm kreuzen werde. Und damit ich nicht aus der Übung komme, knöpfe ich mir anschließend seinen Gefährten vor.«
»D’Artagnan?«
»An dir ist eine Kriminalistin verloren gegangen!«, rief Sydow aus, strich der Jugendliebe, die keine mehr war, über die Wange und wandte sich zum Gehen.
Ostseegold
Berlin / Moskau
(17.06.1953)
›Auch alle weiteren bis dahin ausgewerteten Dokumente sprachen eine deutliche Sprache – das Bernsteinzimmer war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bis zum Untergang der Stadt in Königsberg verblieben.‹
Maurice Philip Remy: Mythos Bernsteinzimmer. München 2003, S. 196.
›Je länger das Kunstwerk in Königsberg aufbewahrt wurde, desto unwahrscheinlicher ist es, dass einem deutschen Spezialkommando ein längerer Transport gen Westen gelingen konnte, ohne von den Truppen der Roten Armee aufgehalten zu werden. Vieles spricht dafür, dass der verlorene Schatz irgendwo zwischen Königsberg und der Ostsee sein geheimes Versteck gefunden hat. Möglich, dass – sollte es jemals gefunden werden nichts als verfaultes Holz und ein riesiges Puzzle losgelöster Bernsteinplättchen übriggeblieben sind. Sollte da die Welt mit ihrer Fantasie und dem Mythos des verschwundenen achten Weltwunders weiterleben?‹
Hans-Christian Huf (Hrsg.): Sphinx – Geheimnisse der Geschichte. Bergisch Gladbach 1994, S. 279.
33
Berlin-Gatow, Jachthafen | 15.05 h
»Sehe ich das richtig, Holländer –«, giftete Slavín und machte sich nicht die Mühe, seinen Groll vor Rembrandt zu verbergen, »Sie halten mich für so dämlich, dass ich Kopf und Kragen riskiere und mir eine Karte andrehen lasse, mit der ich nichts anfangen kann? Zum Spottpreis von einer Million Dollar? Denken Sie vielleicht, ich sei übergeschnappt?«
»Ich denke, es ist das Beste, Genosse, wenn Sie einen kurzen Blick auf die Rückseite werfen«, erwiderte Rembrandt kühl. »Damit es zwischen uns beiden nicht zu Missverständnissen kommt.«
Keineswegs besänftigt, kniff Slavín die Augen zusammen und stierte den Mann, von dem der Erfolg seiner Mission abhing, mit hasserfüllter Miene an. Er misstraute ihm zutiefst, mehr als allen Ganoven zusammen, mit denen er im Auftrag von Besuchow zu tun gehabt hatte. Trotzdem führte kein Weg an ihm vorbei, es sei denn, er würde ihn auf der Stelle ins Jenseits befördern. Unter den gegebenen Umständen kam dies leider nicht infrage, hatte er es doch mit einem der besten Stasi-Agenten zu tun, die es gab. Dass er nicht allein, sondern in Begleitung war, machte die Sache nicht einfacher, weshalb sich Slavín entschloss, sein hitziges Temperament zu zügeln.
»Na, habe ich Ihnen etwa zu viel versprochen?«, tönte Rembrandt, wechselte einen kurzen Blick mit Jensen und ließ die Umgebung des Jachthafens, den Slavín als Treffpunkt vorgeschlagen hatte, nicht aus den Augen. Der Wind hatte stark aufgefrischt und die Masten der Segelboote, die ringsum vertäut waren, bedrohlich zur Seite kippen lassen. Die Luft, feuchtwarm, stickig und schwül, roch nach Unwetter, und bis auf ein Motorboot, das gegen den Wellengang auf der Havel ankämpfte, war nichts Verdächtiges zu sehen. Trotzdem oder gerade deswegen hatte Rembrandt ein ungutes Gefühl. Slavín, der ihn über den Rand der Karte hinweg taxierte, war nun einmal nicht vertrauenswürdig, dafür kannte er ihn einfach zu gut.
»Und wer sagt mir, dass ich mich auf Sie verlassen kann?«, argwöhnte Slavín, nachdem er die Orts- und Positionsangaben auf der Rückseite studiert hatte. »Wer sagt mir, dass sich das Bernsteinzimmer auch wirklich in diesem thüringischen Kaff befindet und nicht irgendwo anders, womöglich sogar im Westen? Oder am Ende in Königsberg?«
»Ich.«
Slavín stutzte, und als sein Blick auf Jensen traf, geriet die unversehrte Hälfte seines Gesichts in Bewegung. Die linke, starr, rötlich und entstellt, mutete wie eine Teufelsfratze an, wovon sich sein Gegenüber freilich nicht irritieren ließ.
»›Ich?‹«, höhnte er. »Was soll das heißen?«
»Gestatten: Jensen«, stellte sich der baumlange Friese vor, der es bislang vermieden hatte, im Zwist zwischen Slavín und Rembrandt das Wort zu ergreifen. Er betrat den Bootssteg, an dessen Ende die beiden einander gegenüberstanden, und betonte: »Ole Jensen.«
»Wer, zum Teufel, sind Sie?«
»Der Mann, der den Eingang zum Stollen, dessen Planskizze Sie gerade in Händen halten, vor etwas mehr als acht Jahren in die Luft gejagt hat.«
»SS?«
»Sie haben es erfasst, Genosse«, trumpfte Jensen auf, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. »Wie im Übrigen auch mein Kamerad, SS-Obersturmbannführer Curt Holländer.«
»Sieh an, davon habe ich nichts gewusst. Hätten Sie mir ruhig beichten können, Holländer. Ein SS-Offizier bei der Stasi – wie schade, dass Genosse Stalin das nicht mehr erleben durfte.«
»Möge er in Frieden ruhen.«
»Treffend formuliert.« Von Natur aus argwöhnisch, justierte Slavín seine Augenklappe und fuhr sich durch das rötliche, wie stets auf den Millimeter genau zurechtgestutzte Haar. Sein intaktes Auge, giftgrün schimmernd und auf einen unsichtbaren Punkt fixiert, der sich irgendwo im Inneren von Jensens Schädel zu befinden schien, funkelte und blitzte, doch der Effekt, den er erhofft hatte, blieb aus. »Feine Gesellschaft, in die ich da geraten bin«, schnaubte er, sah zuerst Holländer, darauf wieder Jensen an und schien fürs Erste zufrieden. »Höchste Zeit, Nägel mit Köpfen zu machen, meine Herren!«