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»Ob Sie es nun wahrhaben wollen oder nicht, Herr Rohde«, verschärfte der Luftschutzwart seinen Ton, »da draußen werden Sie vor die Hunde gehen. Schneller, als Sie denken.«

»Darüber machen Sie sich bitte keine Gedanken, Herr …«

»Luftschutzwart!«, ergänzte der Zweizentnermann, während in unmittelbarer Nähe des Bunkers eine Mine explodierte, welche die knapp 300 Meter nördlich des Königlichen Schlosses gelegenen Katakomben bis in die Grundfeste erzittern ließ. Putz rieselte von den Wänden, die Gesichter ihrer Insassen, zumeist Frauen, Kinder und ältere Bewohner aus dem Wohngebiet rund um den Paradeplatz, wurden vor Schreck aschfahl. Der Schrei, der den meisten auf den Lippen lag, blieb jedoch aus. »Und somit verantwortlich für sämtliche Bunkerinsassen. Auch für Sie, HerrRohde.«

»Haben Sie überhaupt eine Ahnung, was für mich auf dem Spiel steht?«, begehrte Rohde auf und umklammerte seinen Stock. Mit der hanseatischen Gelassenheit, die dem vor der Zeit gealterten Bernsteinexperten anhaftete, war es endgültig vorbei. »Nein? Falls es Sie interessiert, wäre es mir eine Freude, Sie umfassend ins Bild zu setzen, Herr Luftschutzwart.«

Der Angesprochene holte tief Luft, und nachdem sein Doppelkinn wieder die ursprüngliche Position erreicht hatte, schob er es nach vorn und knurrte: »Hören Sie mir gut zu, Sie Klugscheißer: Entweder Sie setzen sich unverzüglich auf Ihren Beamtenarsch, oder Sie kriegen eins auf den Deckel, dass es sich gewaschen hat, klar?«

»Auf die Gefahr, bei wem auch immer in Ungnade zu fallen – sollten Sie den Weg nicht freigeben, kriegen Sie eins auf den Deckel, Herr Luftschutzwart. Wenn nötig, vom Gauleiter persönlich.«

Der Wink mit dem Zaunpfahl wirkte, und die Fassade der Autorität, hinter der sich der Kleinbürger in Uniform verschanzt hatte, begann zu bröckeln. »Und was«, hielt er dagegen, die muskulösen Arme immer noch verschränkt, »ist so wichtig, dass Sie bereit sind, Ihr Leben aufs Spiel zu setzen?«

»Dinge von übergeordneter Bedeutung, Herr Luftschutzwart«, tat der Direktor die Frage mit einer gehörigen Portion Ironie in der Stimme ab. »Ein Kunstwerk aus dem Katharinenpalast in Puschkin.«

»Aus dem …«, begann der Zweizentnermann, unterließ es jedoch, die Frage zu vollenden. Die Genugtuung, im Beisein von einem guten Dutzend Zeugen als Idiot dazustehen, wollte er Rohde nicht gönnen. Der Grund, weshalb er auf ein anderes Terrain auswich. »Ja, wenn das so ist, haben Sie natürlich meinen Segen«, revanchierte sich der Luftschutzwart prompt. »Vor allem, was Ihren kleinen Morgenspaziergang betrifft.« Der Koloss stemmte die Fäuste in die Hüften und schüttelte den Kopf. Dann drehte er den Spieß um. »Für den Fall, dass es Sie ins Schloss ziehen sollte, Herr Rohde –«, tat er mit einer Mischung aus Spott und Herablassung kund, »mittlerweile dürfte dort kein Stein mehr auf dem anderen liegen. So tief können Sie Ihren Krimskrams gar nicht einlagern, als dass er vor den Bomben der Tommies sicher wäre.«

Was als Retourkutsche gedacht war, verfehlte allerdings seine Wirkung. Bevor der Zweizentnermann reagieren konnte, hatte ihn Rohde nämlich am Schlafittchen gepackt und zog ihn auf Augenhöhe zu sich hinab. »Für den Fall, dass es Sie ins Kittchen ziehen sollte –«, ahmte er sein Gegenüber mit feuerrotem Gesicht nach, »mittlerweile ist meine Geduld erschöpft. Zum Mitschreiben, Herr Luftschutzwart: Wenn Sie mir den Weg nicht freigeben, haben Sie mit ernsthaften Konsequenzen zu rechnen. Von welcher Art, werden Sie früh genug erfahren.« Alfred Rohde ließ von seinem Kontrahenten ab, rückte seine Krawatte zurecht und richtete sich auf. »Das heißt, falls Sie den heutigen Tag überleben.«

*

Als der Direktor der Städtischen Kunstsammlungen von Königsberg ins Freie trat, prallte er entsetzt zurück. In der Stadt am Pregel, insbesondere auf der Dominsel, war nichts mehr so wie früher. Die Stadt war dem Erdboden gleichgemacht, in nur neun Minuten von der Landkarte getilgt worden. Selbst jetzt, mehrere Stunden nach dem Angriff der Briten, loderten überall Brände empor, und der Qualm, der ihm entgegenschlug, raubte ihm fast den Atem. Je weiter er sich vom Bunkereingang entfernte, desto größer das Chaos, durch das er sich seinen Weg bahnte. Ein feuchtes Taschentuch vor dem Mund, tastete er sich Schritt für Schritt voran, vorbei an Schuttbergen, Trümmern und verkohlten, bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Leichen. Hin und wieder kreuzten Bekannte seinen Weg, in sich gekehrt, apathisch und tief gebeugt. Die einen mit Leiterwagen, auf denen sich ein paar Habseligkeiten befanden, die anderen mit Rucksack und die meisten nur mit dem, was sie am Leib trugen. Alfred Rohde rang nach Luft, vom Gestank nach verbranntem Fleisch und Phosphor wurde ihm speiübel. Der Asphalt war glühend heiß, an einigen Stellen sogar geschmolzen. Wo er auch hinsah, nichts als Ruinen, Autowracks und Geröllhaufen.

Auf dem Paradeplatz, einem weitläufigen, von der Universität, dem Theater und der Königshalle begrenzten Areal, reihte sich eine Schutthalde an die andere. Einzig das Reiterstandbild Friedrich Wilhelms III. befand sich noch an Ort und Stelle vor der Albertina, wie verloren zwischen Bombenkratern, verkohlten Bäumen und Straßenlaternen, die wie welke Grashalme umgeknickt worden waren. Wenn es die Hölle auf Erden gibt, kam es Rohde im Vorbeigehen in den Sinn, dann hier in Königsberg. Doch so sehr ihm die Trümmerlandschaft unter die Haut ging, er hatte noch eine Mission zu erfüllen. Ungeachtet der Tatsache, dass gerade eine Welt untergegangen war.

Die Welt, in der er lebte, war nämlich eine ganz andere. Die Welt des Kunsthandwerks und der Malerei: Sie war es, in der er sich heimisch fühlte. Aber vor allem galt seine Leidenschaft dem Bernstein, dem Ostseegold, wie er hierzulande genannt wurde. Für das honigfarbene, aus unvordenklichen Zeiten stammende Kleinod würde er sich in jede noch so große Gefahr begeben, auf das Risiko hin, sein Leben aufs Spiel zu setzen. Denn gefährlich war das, was Alfred Rohde tat, allemal. Der Angriff war zwar vorbei, die Gefahr, unter einer herabstürzenden Hauswand begraben zu werden, jedoch beileibe noch nicht gebannt. Und so vergaß er den Vorhof der Hölle, in den es ihn verschlagen hatte, ließ den Paradeplatz hinter sich und bog in die Junkergasse ein. Auch hier das gleiche Bild: geschmolzener Asphalt, deformierte Straßenbahnschienen, wie Kartenhäuser zusammengestürzte Fassaden.

Auf dem Schlossplatz angekommen, wurden seine Befürchtungen bestätigt. Von der einstigen Pracht und Herrlichkeit war kaum etwas übriggeblieben, das Wahrzeichen der Stadt nahezu vollständig niedergebrannt. Rohde wurde schwarz vor Augen, es schien, als reiße man ihm das Herz aus der Brust. Kurz darauf, im Angesicht rußgeschwärzter Trümmer, verkohlter Balken und zerborstener Fensterläden, gab er sich allerdings einen Ruck, durchquerte das Schlossportal und betrat den Hof.

»Herr Direktor – gut, dass Sie da sind!«, rief ihm der Kastellan vom Südflügel aus zu, den er soeben inspiziert hatte. »Ich dachte schon, Ihnen sei etwas …«

»Danke der Nachfrage, Friedrich«, warf Rohde freundlich, aber bestimmt ein, »doch Sie werden verstehen, dass es momentan weit Wichtigeres als mein persönliches Wohlbefinden gibt.«

Der Schlossverwalter, ein knorriger Ostpreuße, den so schnell nichts erschüttern konnte, hob beschwichtigend die Hände. »Kein Grund zur Beunruhigung, Herr Direktor«, wiegelte er mit unüberhörbar masurischem Timbre in der Stimme ab. »Das Bernsteinzimmer ist heil geblieben.«