Degrandpre legte die Hand auf das Zugangsfeld und das Schott fuhr auf. Vor den Kontrollen saß ein kuiperscher Mediziningenieur und überwachte die Quarantäne. Die vier Überlebenden der Hochseekatastrophe, ein Shuttlepilot und drei Junior-Exomeeresbiologen, harrten jetzt schon seit zehn Tagen in ihrem Gefängnis aus. Ein Bild aus der Isolationskammer füllte den Schirm über Degrandpres Kopf: zwei Männer, zwei Frauen, alle abgespannt, die Biologen im weißen Laborzeug, die Konzernuniform des Piloten sah noch erstaunlich fesch aus.
Theophilus stellte dem Mediziningenieur gezielte und kenntnisreiche Fragen zu den Quarantäneprozeduren, freien Kapazitäten, Störfallprotokollen und Alarmsystemen. Degrandpre hörte gut zu, konnte dem Austausch aber nichts entnehmen… außer vielleicht, dass sich Devices & Personnel allmählich um den sterilen Status der IOS sorgten.
Der aber hatte immer außer Frage gestanden. Ja, ein Ausbruch an Bord der Orbitalstation wäre natürlich ein Verhängnis gewesen. Die stählerne Perlenkette der IOS beherbergte und versorgte nahezu anderthalbtausend Menschen und für die meisten gab es keinen plausiblen Fluchtweg; der Planet selbst war prinzipiell toxisch und die einzige Higgs-Schleuder, die für den Notfall reserviert war, konnte bestenfalls eine Handvoll Manager aufnehmen. Doch es hatte zu keiner Zeit auch nur den Anflug einer solchen Bedrohung gegeben. Die Shuttles, die von Isis kamen, mussten durch das sterilisierende Vakuum des Weltraums und Fracht und Passagiere wurden rigoros unter Quarantäne gestellt und untersucht. Wie der Mediziningenieur geduldig ausführte. Und eingehend erklärte. Und fortfuhr zu erläutern, bis Degrandpre sich gezwungen sah, der Befürchtung Ausdruck zu geben, der Seniormanager von der Erde könne sich womöglich von der Fülle der Details erdrückt fühlen.
»Ganz im Gegenteil«, sagte Theophilus schneidig. »Standard-Quarantäne beträgt zehn Tage?«
Der Mediziningenieur nickte.
»Und wann geht diese hier zu Ende?«
»In wenigen Stunden, und kein Anzeichen einer Kontamination, nichts. Die haben eine Menge durchgemacht, die vier; die freuen sich schon.«
»Geben Sie ihnen noch eine Woche«, sagte Avrion Theophilus.
»Master Theophilus«, fragte Degrandpre, »gibt es sonst noch etwas, das Sie zu sehen wünschen? Die Gärten vielleicht, oder die medizinischen Einrichtungen?«
»Isis«, sagte Theophilus.
Immer wollen sie ans Fenster. »Da kann ich Ihnen den Ausblick im Shuttledock empfehlen.«
»Nein, danke, ich möchte schon näher hinsehen.«
Degrandpre runzelte die Stirn. »Näher hinsehen? Sie meinen… Sie wollen eine Bodenstation besuchen?«
Theophilus nickte.
Mein Gott, dachte Degrandpre. Er wird sich umbringen. Dieser imposante, dämliche Adelige wird sich umbringen, und die Familien werden mir die Schuld geben.
Zwölf
Am letzten Morgen ihres dreitägigen Testausflugs verschlief Zoe. Seit dem Tod von Elam Mather hatte sie ein gestörtes Verhältnis zu ihrem Schlaf, er war seitdem flach und strotzte vor Träumen, doch die Erschöpfung hatte sie in eine schwarze, traumlose Bewusstlosigkeit gekippt. Als sie aufwachte, war der morgendliche ›Handshake‹ mit Yambuku seit einer Stunde überfällig.
Hatte man sie einfach schlafen lassen, oder gab es schon wieder eine Krise, eine Peripherieverletzung oder sonst ein Unheil zu bewältigen? Sie schaltete ihr Hornhautdisplay um und rief einen Lagebericht ab. Das übliche Telegeschnatter von Yambuku scrollte vorbei, Roboter redeten mit Robotern, doch ihre persönliche Sprechfunkverbindung trug ein gelbes Wartesymbol. Sie befragte das System und bekam eine vorausschauende Nachricht von Tam Hayes. Er müsse an einer Konferenz mit den IOS-Kachos teilnehmen und werde sich so bald wie möglich melden; inzwischen könne sie ja schon mal ihre sieben Sachen packen für den letzten Tagesmarsch.
Sie trat aus dem Zelt in die Morgensonne hinaus und kam sich ein klein wenig verlassen vor.
Ihr Testausflug war ein einziger Erfolg gewesen. Alle Peripheriegeräte — Zelt, Roboter, Managementsysteme für Nahrung und Abfall, Telekommunikation — hatten so einwandfrei funktioniert, dass die Ingenieure von Yambuku kein Hehl aus ihrem Neid machten. Es gab also doch noch eine Zukunft für die menschliche Präsenz auf Isis, auch wenn die Außenposten der ersten Generation gravierende Schwächen zeigten. Sie erfüllte ihre Mission, und wichtiger noch, sie war auf Isis, unterwegs in der fremden Biosphäre, nur einen Steinwurf entfernt vom brausenden Copper River…
Und warum kam ihr das wie ein hohles Versprechen vor?
Irgendetwas stimmt nicht mit mir, dachte Zoe.
Sie ließ die Luft aus den Zeltwänden, rollte die Gelmatten sorgfältig zusammen und schnallte sie auf einen hundegroßen Packroboter. Sie packte auch ihre Abfälle ein — leere Nahrungsbehälter, einen entladenen Akku; alles war keimfrei, aber es hier zu vergraben, kam ihr wie eine Entweihung vor, eine Beleidigung von Isis.
Irgendetwas stimmte nicht. Oh, es war nichts Physisches; ihre Grenzflächen waren intakt; sie war so gefeit gegen die Biosphäre wie ein Mensch nur gefeit sein konnte. Es war etwas weniger Greifbares als ein Virus oder ein Prion, das sich da in ihrem Innern breit machte.
Der Wald glitzerte vom nächtlichen Regen. Das Wasser rann von Stufe zu Stufe, aus vollen Blattmulden in überlaufende Blütenkelche. Im Schattenreich der Baumstämme waren über Nacht die Fruchtkörper der verschiedensten Pilze aus dem Boden geschossen. Der leichte Westwind wirbelte Schimmelpilzsporen auf, ein feiner, klebriger Staub, wie Holzascheteufelchen.
Ob sie mit einem Arzt reden sollte? Wenn alles nach Plan verlief, war sie bis zum Einbruch der Dunkelheit wieder in Yambuku. Doch ihre Beschwerden waren nicht so dramatisch — Ruhelosigkeit, Schlafstörungen und eine ganze Reihe von befremdlichen Gefühlen, von denen einige mit ihrer sexuellen Beziehung zu Tam Hayes zusammenhingen. Wenn sie das einem Arzt von Yambuku offenbarte, hatte sie endlose endokrine und Neurotransmitter-Tests zu erwarten — wollte sie das? »Nein«, sagte sie, ihre Stimme wurde von den Anzugfiltern gedämpft, klang aber wie ein Paukenschlag auf der wispernden Lichtung. Nein, das wollte sie auf keinen Fall, und nicht bloß wegen der physischen Ungelegenheiten. Um ehrlich zu sein, sie veränderte sich auf eine ebenso quälende wie beunruhigende Weise.
Ihre Gefühle für Hayes zum Beispiel. Sie kannte sich aus mit menschlicher Sexualität; sie hatte sie eingehend studiert. Ihre Bioregulatoren sorgten für einen ausgeglichenen chemischen Haushalt, was aber nicht hieß, dass sie geschlechtslos war; die Tantralehrer auf der Mittelschule hatten sie für ihre Geschicklichkeit gelobt. Nein: Das Schockierende war, dass sie ihm tatsächlich erlaubt hatte, sie anzufassen, das sogar gewollt hatte, genossen hatte. Die Kliniker von Devices & Personnel hatten ihr erklärt, durch Zutun eines anderen könne sie nie zu einem befriedigenden Orgasmus kommen. Die Jahre in Teheran hätten zu viele assoziative Barrieren aufgebaut, und außerdem dämpfe die Bioregulation die erforderlichen hormonellen Feedback-Schleifen. Sie könne nun mal keinen vergnügten Geschlechtsverkehr mit einem Mann haben.
So ähnlich jedenfalls hatte es geheißen.
Also stimmte etwas nicht. Also müsste sie einen Arzt konsultieren.
Aber das wollte sie nicht. Denn ein Arzt würde sie eventuell wieder einstellen und das Sonderbare — das wirklich Sonderbare — war, dass sie gar nicht eingestellt werden wollte.